Naokos Laecheln
tot, aber wir müssen weiterleben.«
Ich nickte. Reiko wiederholte endlos eine schwierige Passage.
»Ich war bereit, mit ihm zu schlafen.« Naoko öffnete ihre Haarspange und ließ ihr Haar frei herunterhängen. Dann spielte sie mit der Schmetterlingsspange. »Und natürlich wollte er mit mir schlafen. Also versuchten wir es, immer wieder, aber es ging nicht. Bis heute ist mir ein Rätsel, warum nicht. Ich habe Kizuki doch geliebt und auch nie besonderen Wert auf meine Jungfräulichkeit gelegt. Ich hätte ihm gern alles gegeben, was er wollte. Aber es klappte nie.«
Naoko steckte ihr Haar wieder hoch.
»Ich wurde überhaupt nicht feucht«, sagte sie sehr leise. »Als könnte ich mich nicht öffnen. Es tat unheimlich weh – so trocken war ich. Wir versuchten alles mögliche. Aber nichts half, auch befeuchten nicht. Also benutzte ich meine Hände oder meinen Mund – du weißt schon.«
Ich nickte.
Naoko sah durch das Fenster zum Mond hin, der nun noch größer und heller wirkte als zuvor. »Ich wollte nie über diese Dinge sprechen. Ich wollte sie in meinem Herzen begraben, aber ich muß darüber sprechen, es geht nicht anders. Ich habe keine Erklärung. Als ich mit dir geschlafen habe, war ich sehr feucht, oder?«
»Ja.«
»Als du an dem Abend von meinem zwanzigsten Geburtstag zu mir kamst, war ich von Anfang an feucht und habe mir nur gewünscht, daß du mich in die Arme nimmst. Mich in die Arme nimmst, mich ausziehst, mich streichelst und in mich eindringst. Es war das erste Mal, daß ich mir das wünschte. Aber warum? Warum laufen die Dinge so? Ich habe Kizuki doch wirklich geliebt.«
»Und mich nicht«, sagte ich. »Du möchtest wissen, warum du bei mir solche Gefühle hattest, obwohl du mich nicht geliebt hast.«
»Es tut mir leid. Ich möchte dich nicht verletzen, aber eines mußt du verstehen: Kizuki und ich hatten ein ganz besonderes Verhältnis. Seit unserem dritten Lebensjahr haben wir miteinander gespielt. Wir waren unentwegt zusammen, konnten uns alles sagen und haben einander immer verstanden. So sind wir aufgewachsen – unzertrennlich. Es war so wundervoll, als wir uns in der sechsten Klasse zum ersten Mal geküßt haben. Als ich zum ersten Mal meine Periode bekam, bin ich gleich zu ihm gelaufen und habe geheult wie ein kleines Kind. So nah waren wir uns. Darum war ich nach Kizukis Tod unfähig, Beziehungen zu anderen Menschen zu knüpfen, geschweige denn jemanden zu lieben.«
Sie griff so ungeschickt nach ihrem Weinglas, daß es zu Boden fiel und der Wein sich über den Teppich ergoß. Ich bückte mich, hob das Glas auf und stellte es wieder auf den Tisch. Ob sie noch etwas Wein trinken wolle, fragte ich Naoko. Sie schwieg eine Weile und brach auf einmal in Tränen aus, am ganzen Körper zitternd. Nach vorne gekrümmt, das Gesicht in beide Hände vergraben, schluchzte sie mit der gleichen erstickten Unbändigkeit wie damals am Abend ihres Geburtstages. Reiko legte die Gitarre ab und streichelte ihr tröstend den Rücken. Als sie den Arm um Naoko legte, drückte Naoko wie ein Säugling ihr Gesicht an Reikos Brust.
»Herr Watanabe, wie wär’s, wenn Sie ein bißchen spazierengingen?« sagte Reiko zu mir. »Zwanzig Minuten vielleicht? Dann geht’s bestimmt wieder.«
Ich nickte, stand auf und zog mir einen Pullover über das Hemd. »Tut mir leid«, sagte ich zu Reiko.
»Nein, nein, Sie können nichts dafür«, sagte sie und zwinkerte mir zu, »machen Sie sich keine Gedanken. Wenn Sie zurückkommen, ist wieder alles in Ordnung.«
Unentschlossen trottete ich im seltsam unwirklichen Mondlicht einen Pfad entlang, der in den Wald führte. In diesem Mondschein hallten alle Geräusche eigenartig wider. Der hohle Klang meiner Schritte schien aus einer völlig anderen Richtung zu kommen, als hörte ich jemanden auf dem Meeresgrund herumwandern. Ab und zu vernahm ich hinter mir ein Knacken oder Rascheln. Über dem Wald lastete eine gespannte Stille, als hielten die Nachttiere den Atem an, bis ich vorüber war.
Als ich wieder aus dem Wald herauskam, ließ ich mich auf einem Hang nieder und blickte zu den Häusern von Sektor C hinunter. Naokos Wohnung war leicht auszumachen, ich mußte nur nach einem schwachen Lichtschein in einem ansonsten unbeleuchteten Fenster Ausschau halten. Völlig reglos starrte ich auf dieses kleine Licht. So sehr erinnerte es mich an das letzte Aufflackern einer menschlichen Seele, daß ich am liebsten meine Hände darum gelegt hätte, um es vor dem Verlöschen zu
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