Naokos Laecheln
ausgesprochen wichtig, daß Sie nicht ungeduldig werden«, erklärte mir Reiko. »Das ist noch ein Rat, den ich Ihnen geben kann. Drängen Sie sie auf keinen Fall zu irgend etwas. Auch wenn Ihnen die Lage noch so verzweifelt und aussichtslos erscheint, dürfen Sie niemals die Geduld verlieren und unüberlegt an einem einzelnen Faden zerren. Sie müssen sich Zeit nehmen und die verhedderten Fäden langsam entwirren. Meinen Sie, Sie können das?«
»Ich kann’s versuchen.«
»Es könnte sehr lange dauern, und vielleicht wird sie auch niemals völlig gesund. Haben Sie daran schon einmal gedacht?«
Ich nickte.
»Warten fällt schwer.« Reiko ließ den Ball auf den Boden dopsen. »Besonders in Ihrem Alter. Trauen Sie sich zu, einfach nur zu warten, bis sie gesund ist? Ohne eine Frist, ohne Garantie? Lieben Sie Naoko dafür genug?«
»Ich weiß es nicht«, gab ich ohne Umschweife zu. »Im Grunde weiß ich so wenig wie Naoko, wie man einen anderen Menschen liebt, auch wenn sie es ein bißchen anders meint als ich. Aber ich will tun, was ich kann. Mir bleibt ja gar nichts anderes übrig. Wie Sie sagen: Naoko und ich, wir müssen einander helfen. Anders sind wir beide nicht zu retten.«
»Und werden Sie jetzt weiter mit Zufallsbekanntschaften schlafen?«
»Auch darüber bin ich mir noch nicht im klaren. Was meinen Sie? Sollte ich warten und immer nur masturbieren? Ich hab mich auch darin nicht hundertprozentig unter Kontrolle, wissen Sie.«
Reiko legte den Ball auf den Boden und tätschelte mein Knie. »Ich sage ja gar nicht, daß Sie mit keinem Mädchen mehr schlafen sollen. Wenn es für Sie in Ordnung ist, ist es in Ordnung. Schließlich ist es Ihr Leben, und Sie müssen darüber entscheiden. Ich sage nur, Sie sollten sich nicht auf eine so unnatürliche Weise verausgaben. Verstehen Sie? Das wäre Verschwendung. Mit neunzehn, zwanzig ist man in einer Phase, die für die Entwicklung des Charakters entscheidend ist, und wenn man sich in dieser Zeit verkorksen läßt, wird man später darunter leiden. Glauben Sie mir – und denken Sie darüber nach. Wenn Sie Naoko etwas Gutes tun wollen, seien Sie auch gut zu sich selbst.«
Ich versprach, mir alles gründlich durch den Kopf gehen zu lassen.
»Ich war selbst einmal zwanzig. Vor langer Zeit. Können Sie sich das vorstellen?«
»Natürlich, wieso nicht?«
»Ganz im Ernst?«
»Ja, ganz im Ernst.« Ich mußte lachen.
»Ich war sogar hübsch. Nicht so hübsch wie Naoko, aber ich sah gar nicht übel aus. Damals hatte ich noch nicht so viele Falten.«
Ich sagte, mir gefielen ihre Falten sehr, und sie bedankte sich.
»Aber von jetzt an sollten Sie sich hüten, einer Frau zu sagen, sie fänden ihre Falten attraktiv. Bei mir kommt das gut an, aber ich bin die Ausnahme.«
»Ich merk’s mir.«
Reiko holte ihr Portemonnaie aus der Hosentasche und zog aus dem Ausweisfach ein Farbfoto von einem niedlichen, etwa zehnjährigen Mädchen im bunten Skianzug und hielt es mir hin. Die Kleine stand auf Skiern im Schnee und lächelte für die Kamera.
»Ist sie nicht hübsch? Das ist meine Tochter. Das Foto hat sie mir Anfang des Jahres geschickt. Sie ist jetzt in der – ja, in der vierten Klasse.«
»Sie hat Ihr Lächeln«, sagte ich und gab das Foto zurück. Reiko schniefte einmal, dann schob sie das Bild wieder ins Portemonnaie und zündete sich die nächste Zigarette an.
»Ich wollte einmal Pianistin werden. Ich war begabt, und schon als ich noch Kind war, wurde viel Wind um diese Begabung gemacht. Ich gewann Talentwettbewerbe und hatte ausgezeichnete Noten an der Musikhochschule. Nach dem Examen sollte ich in Deutschland weiterstudieren. Es gab nicht eine Wolke am Horizont. Alles lief wie geschmiert für mich, und wenn nicht, waren genügend Leute da, die mir die Hindernisse aus dem Weg räumten. Dann geschah eines Tages etwas, und alles war aus. Ich ging das vierte Jahr aufs Konservatorium, und ein ziemlich wichtiger Wettbewerb stand bevor, für den ich pausenlos übte. Plötzlich konnte ich den kleinen Finger meiner linken Hand nicht mehr bewegen. Warum, weiß ich nicht, aber er rührte sich einfach nicht. Massage, heiße Bäder, ein paar Ruhetage – nichts half. Ich bekam es mit der Angst zu tun und ging zum Arzt, der alle möglichen Untersuchungen vornahm, die nicht das geringste ergaben. Der Finger sei nicht verletzt, die Nerven seien in Ordnung, hieß es – es gab keinen Grund dafür, daß ich ihn nicht bewegen konnte. Es mußte sich also um ein psychisches Problem
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