Naokos Laecheln
nicht mehr hier, wenn der Schnee kommt«, erwiderte Reiko dem Mann.
»Nein, aber der Winter ist doch so schön«, wiederholte er mit ernster Miene, und ich bezweifelte immer mehr, daß dieser Mann zum Ärztestab gehörte.
»Worüber unterhält man sich hier denn so?« fragte ich Reiko, die mich daraufhin etwas verständnislos ansah.
»Worüber wir reden? Über ganz normale Dinge. Erlebnisse, Bücher, das Wetter, über alles Mögliche eben. Was dachten denn Sie? Daß alle fünf Minuten einer aufspringt und kreischt: ›Wenn der Eisbär heute die Sterne frißt, regnet es morgen!‹?«
»Nein, natürlich nicht. Ich habe mich nur gefragt, worüber sich alle so gedämpft unterhalten.«
»Es ist so ruhig hier, daß man sich auch leise unterhalten kann.« Naoko legte die Gräten ordentlich auf ihrem Tellerrand ab und tupfte sich den Mund mit einem Taschentuch ab. »Hier braucht man keinen von irgendwas zu überzeugen, auch nicht die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.«
»Scheint so«, sagte ich. Seltsamerweise fehlte mir in diesem ruhigen Speisesaal aber doch der Trubel. Ich sehnte mich nach Gelächter, sinnlosen Rufen und wichtigtuerischem Geschwätz. Eigentlich hatte ich diesen Lärm längst satt, aber in dieser unnatürlichen Stille konnte ich meinen Fisch auch nicht genießen. Die Atmosphäre erinnerte mich zu sehr an eine Messe für Hersteller von Spezialmaschinen. Menschen, die sich stark für ein begrenztes Fachgebiet interessierten, hatten sich an einem isolierten Ort versammelt und tauschten Informationen in einem Code aus, den außer ihnen niemand verstand.
Als wir nach dem Essen wieder in der Wohnung ankamen, sagten Naoko und Reiko, sie gingen nun ins Gemeinschaftsbad von Sektor C. Wenn mir eine Dusche genüge, solle ich die in ihrem Badezimmer benutzen. Ich sagte, das würde ich tun, und als sie gegangen waren, zog ich mich aus, duschte und wusch mir die Haare. Ich entdeckte eine Platte von Bill Evans im Regal und hörte sie mir an, während ich mir die Haare trocknete. Da fiel mir plötzlich ein, daß dies eine der Platten war, die wir an Naokos Geburtstag in ihrem Zimmer aufgelegt hatten. In jener tränenreichen Nacht, in der ich sie in die Arme genommen hatte. Ich konnte kaum glauben, daß das erst vor einem halben Jahr gewesen sein sollte; es kam mir wie ein Ereignis aus ferner Vergangenheit vor. Vielleicht hatte sich, weil ich so oft daran gedacht hatte, die Zeit für mich gedehnt und mein Zeitgefühl war durcheinandergeraten.
Der Mond schien so hell, daß ich das Licht löschte und mich auf dem Sofa ausstreckte, um den Klängen von Bill Evans am Klavier zu lauschen. Das Mondlicht, das sich durch das Fenster ergoß, warf lange Schatten, die wie verblichene Tuschespritzer die Wände sprenkelten. Aus meinem Rucksack holte ich die Metallflasche mit Brandy, die ich mitgebracht hatte, und nahm einen Schluck daraus. Langsam breitete sich wohlige Wärme in mir aus, vom Hals bis in den Magen, von wo sie durch alle Adern meines Körpers strömte. Nach einem zweiten Schluck schraubte ich die Flasche zu und verstaute sie wieder in meinem Beutel. Das Mondlicht schien sich nun im Rhythmus der Musik zu wiegen.
Zwanzig Minuten später kamen Naoko und Reiko aus dem Bad zurück.
»Weil das Licht aus war, dachten wir schon, Sie hätten Ihre Sachen gepackt und wären zurück nach Tōkyō gefahren«, sagte Reiko.
»Nein, nein, ich habe nur schon lange keinen so hellen Mond mehr gesehen, da wollte ich ihn im Dunkeln genießen.«
»Er ist wirklich wunderbar«, sagte Naoko. »Reiko, haben wir noch die Kerzen von dem Stromausfall neulich?«
»Wahrscheinlich in einer Küchenschublade.«
Naoko ging in die Küche und holte aus einer Schublade eine große, weiße Kerze. Ich zündete sie an, ließ ein bißchen Wachs in einen Aschenbecher tropfen und stellte sie darauf. Reiko steckte sich an der Flamme eine Zigarette an. Als wir in dieser stillen Umgebung um die Kerze saßen, schien es fast, als wären wir die drei letzten, in irgendeinem Winkel am Ende der Welt übriggebliebenen Menschen. Die reglosen Schatten des Mondlichts und die tanzenden Schatten der Kerze begegneten sich auf der weißen Wand und verschmolzen miteinander. Naoko und ich saßen nebeneinander auf dem Sofa, Reiko saß in dem Schaukelstuhl gegenüber.
»Wie wär’s mit einem Glas Wein?« schlug Reiko vor.
»Darf man hier denn Alkohol trinken?« fragte ich ein bißchen überrascht.
»Eigentlich nicht.« Merklich verlegen kratzte Reiko sich am Ohr.
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