Naokos Laecheln
»Aber bei Wein und Bier drücken sie schon mal ein Auge zu, wenn man nicht zu viel trinkt. Jemand vom Personal bringt mir immer etwas mit, wenn ich darum bitte.«
»Manchmal gönnen wir beide uns ein Trinkgelage«, sagte Naoko verschmitzt.
»Macht sicher Spaß.«
Reiko nahm eine Flasche Weißwein aus dem Kühlschrank, entkorkte ihn und holte drei Gläser. Der Wein hatte einen frischen, angenehmen Geschmack, fast als wäre er hausgemacht. Als die Schallplatte zu Ende war, zog Reiko unter ihrem Bett einen Gitarrenkasten hervor und spielte, nachdem sie das Instrument liebevoll gestimmt hatte, langsam eine Fuge von Bach. Ab und zu griffen ihre Finger daneben, aber es war Bach, mit Liebe vorgetragen, voll Wärme und mit tiefer Freude am Spiel.
»Ich habe erst hier angefangen, Gitarre zu spielen«, erzählte Reiko. »Weil es in den Zimmern natürlich keine Klaviere gibt. Ich habe es mir selbst beigebracht. Freilich habe ich keine Gitarrenhände und kann schon darum nie richtig gut werden, aber ich liebe die Gitarre als Instrument. Sie ist handlich und einfach, liebenswert – wie ein kleines, warmes Zimmer.«
Sie spielte noch ein kurzes Stück von Bach, etwas aus einer Suite. Während ich in die Kerze schaute, Wein trank und Reikos Gitarrenspiel lauschte, breitete sich allmählich Ruhe in mir aus. Als Reiko geendet hatte, bat Naoko sie, einen Beatles-Song zu spielen.
»Aha, jetzt kommen die Hörerwünsche.« Reiko zwinkerte mir zu. »Seit Reiko hier ist, muß ich Tag für Tag die Beatles spielen, ich bedauernswerte Sklavin.«
Trotz ihres Protests spielte Reiko Michelle, und sie spielte es ausgezeichnet.
»Ein schönes Stück. Es gefällt mir sehr.« Reiko nahm einen Schluck Wein und zündete sich eine Zigarette an. »Es gibt mir das Gefühl, ich wäre bei leichtem Regen auf einer großen Wiese.«
Anschließend spielte sie Nowhere Man und Julia. Hin und wieder schloß sie dabei die Augen und schüttelte rhythmisch den Kopf. Dann wandte sie sich wieder ihrem Wein und ihren Zigaretten zu.
»Spiel Norwegian Wood«, bat Naoko. Reiko holte eine Porzellansparbüchse in Form einer japanischen Glückskatze aus der Küche, und Naoko warf eine Hundert-Yen-Münze hinein, die sie aus ihrem Portemonnaie genommen hatte.
»Was machst du da?« fragte ich.
»Immer wenn ich mir Norwegian Wood wünsche, muß ich hundert Yen in die Sparbüchse werfen«, erklärte Naoko. »Weil es mein Lieblingsstück ist, lasse ich es mich etwas kosten.«
»Und ich komme so zu meinem Zigarettengeld«, sagte Reiko.
Sie dehnte ihre Finger und spielte Norwegian Wood, wieder mit viel Gefühl, doch ohne je sentimental zu werden. Ich nahm ebenfalls hundert Yen aus der Tasche und warf sie in die Dose.
Reiko bedankte sich lächelnd.
»Diese Melodie macht mich manchmal so traurig. Ich weiß nicht warum, aber ich stelle mir vor, ich würde im tiefen Wald umherirren«, sagte Naoko. »Ich bin ganz allein, es ist kalt und dunkel, und niemand kommt mich retten. Drum spielt Reiko es auch nur, wenn ich sie darum bitte.«
»Das erinnert mich hier alles irgendwie an Casablanca.« Reiko lachte.
Sie spielte ein paar Bossa Novas, und ich beobachtete Naoko. Wie sie schon in ihrem Brief geschrieben hatte, sah sie gesünder aus als früher, sie war braungebrannt, und vom Sport und der Bewegung an frischer Luft war ihr Körper geschmeidiger geworden. Ihre Augen waren noch immer tiefe, klare Seen, und ihr kleiner Mund bebte noch genauso scheu, aber insgesamt war sie auf dem Weg, zu einer erwachsenen Schönheit heranzureifen. Das Kantige an ihr – jene Schärfe einer hauchdünnen Klinge –, das ihre Schönheit früher beeinträchtigt hatte, war nahezu verschwunden, und dafür ging eine eigentümliche, besänftigende Ruhe von ihr aus. Ihre Schönheit berührte mein Herz, und ich staunte darüber, daß eine Frau sich im Laufe eines halben Jahres so sehr verändern konnte. Naokos neue Schönheit war für mich ebenso anziehend wie ihre frühere, vielleicht sogar noch mehr. Zugleich erfüllte mich der unwiederbringliche Verlust jener anderen Schönheit, dieser selbstbezogenen Schönheit, wie sie nur junge Mädchen besitzen, mit Melancholie.
Naoko wollte nun etwas über mein Leben erfahren, und ich berichtete vom Streik an der Universität und von Nagasawa. Das war das erste Mal, daß ich ihn ihr gegenüber überhaupt erwähnte, und es fiel mir sehr schwer, ihr Nagasawas sonderbares Wesen, sein seltsames Gedankengebäude und seine widersprüchliche Moral genau zu
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