Naokos Laecheln
sie ihr Verhalten nicht im geringsten, und ihre Augen hatten den gleichen transparenten Ausdruck wie sonst.
»Hast du gut geschlafen?« fragte ich Naoko.
»Ja, wie ein Stein«, antwortete sie unbefangen. Sie trug eine schlichte Haarspange ohne Verzierung. Eine gewisse Verunsicherung ließ mich während des ganzen Frühstücks nicht los. Ob ich mein Brot mit Butter bestrich oder mein gekochtes Ei schälte, immer wieder blickte ich zu Naoko hinüber, um vielleicht doch ein Zeichen zu entdecken.
»Was guckst du mich denn heute morgen ständig so an?« fragte Naoko verwundert.
»Er ist bestimmt verliebt«, sagte Reiko.
»Bist du in jemanden verliebt?« fragte Naoko.
»Könnte schon sein.« Ich lachte. Als die beiden anfingen, sich auf meine Kosten zu amüsieren, gab ich es auf, über mein nächtliches Erlebnis nachzugrübeln, und widmete mich meinem Brot und meinem Kaffee.
Nach dem Frühstück sagten Reiko und Naoko, sie würden jetzt die Vögel füttern gehen, und ich bot an mitzukommen. Die beiden zogen Jeans, Arbeitshemden und weiße Gummistiefel an. Von Blumenbeeten, Sträuchern und Bänken umgeben, lag die Voliere in einem kleinen Park hinter dem Tennisplatz und beherbergte alles mögliche Federvieh – Hühner, Tauben, Pfauen und Papageien. Zwei Männer zwischen Vierzig und Fünfzig, anscheinend ebenfalls Patienten, rechten das Laub zusammen, das auf den Wegen lag. Reiko und Naoko gingen zu ihnen hinüber, um ihnen einen guten Morgen zu wünschen, und Reiko brachte sie mit einem ihrer Witze zum Lachen. In den Blumenbeeten blühten Schmuckkörbchen, und die Sträucher waren perfekt gestutzt. Die Vögel brachen in begeistertes Gezwitscher aus und begannen im Käfig herumzuflattern, sobald sie Reiko entdeckten.
Aus einem Schuppen neben der Voliere holten die beiden einen Sack mit Vogelfutter und einen Schlauch. Naoko schraubte den Schlauch auf einen Wasserhahn und drehte das Wasser auf. Vorsichtig, damit kein Vogel ins Freie flog, schlüpften Naoko und Reiko in die Voliere, und Naoko spritzte den Boden ab, während Reiko ihn mit einem Schrubber bearbeitete. Der feine Sprühnebel glitzerte im Schein der Morgensonne. Flatternd ergriffen die Pfauen vor dem Wasserstrahl die Flucht. Ein Truthahn hob den Kopf und funkelte mich böse an wie ein grantiger alter Mann, und ein Papagei kreischte unter Flügelschlägen mißbilligend von seiner Stange herab. Als Reiko miaute, flüchtete er in die hinterste Ecke und zog den Kopf ein. Kurz darauf schrie er schon wieder »Danke! Spinner! Scheiße!«.
»Wer ihm das wohl beigebracht hat?« Naoko seufzte.
»Ich nicht«, sagte Reiko. »Solche Wörter kenne ich gar nicht.« Sie miaute wieder täuschend echt, worauf der Papagei eingeschüchtert verstummte.
»Er hatte mal eine Begegnung mit einer Katze. Seitdem hat er eine Todesangst, wenn er nur eine hört«, erklärte Reiko vergnügt.
Als sie mit dem Saubermachen fertig waren, legten sie die Geräte ab und füllten die Futternäpfe. Sofort platschte der Truthahn durch die Pfützen zu seinem Napf, versenkte gierig seinen Kopf darin und fraß, ohne sich von den Klapsen, die Naoko ihm auf den Schwanz gab, stören zu lassen.
»Macht ihr das jeden Morgen?« fragte ich sie.
»Ja, diese Arbeit wird meist Frauen zugeteilt, die neu hier sind, weil sie leicht ist. Möchtest du die Kaninchen sehen?«
In dem Stall hinter der Voliere schliefen ungefähr zehn Kaninchen im Stroh. Nachdem Naoko ihren Kot zusammengefegt und ihnen frisches Futter gegeben hatte, nahm sie ein Junges auf den Arm und kuschelte es an ihre Wange.
»Guck mal, wie niedlich«, sagte sie mit glücklichem Gesicht. Sie gab mir das Kaninchen, und das warme kleine Fellbündel duckte sich mit zuckenden Ohren in meine Hand.
»Keine Angst. Er tut dir nichts«, sagte Naoko zu dem Kaninchen, streichelte es mit dem Finger und lächelte mir dabei zu. Und weil es so ein strahlendes Lächeln ohne jeden Schatten war, lächelte ich unwillkürlich auch. Doch immer wieder fragte ich mich, was letzte Nacht wohl in Naoko gefahren war. Ohne jeden Zweifel war es die echte Naoko gewesen und kein Traum – und sie hatte sich wirklich ausgezogen und sich mir nackt gezeigt.
Gekonnt pfiff Reiko Proud Mary vor sich hin und stopfte Reiko den gesammelten Müll in eine Plastiktüte, die sie anschließend oben zuschnürte. Ich half den beiden, die Geräte und das Futter wieder in den Schuppen zu bringen.
»Der Morgen ist meine liebste Tageszeit«, sagte Naoko. »Er ist wie ein neuer Anfang.
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