Naokos Laecheln
Bergen gewandert war, ging mir die Puste aus.
»Macht ihr öfter solche Wanderungen?« fragte ich Naoko.
»Ungefähr einmal in der Woche«, erwiderte sie. »Ist es zu anstrengend für dich?«
»Ein bißchen«, gab ich keuchend zu.
»Zwei Drittel haben wir geschafft«, rief Reiko, »wir sind gleich da. Reißen Sie sich zusammen – Sie sind doch ein Junge, oder?«
»Ja. Aber untrainiert.«
»Tja, wenn man immer nur hinter den Mädchen her ist«, murmelte Naoko vor sich hin.
Ich hätte gerne etwas erwidert, aber ich war zu sehr außer Atem. Alle Augenblicke huschten rote Vögel mit einem Federschmuck auf dem Kopf vorbei, die sich prächtig gegen den blauen Himmel abhoben. Auf den umliegenden Feldern blühten zahllose weiße, blaue und gelbe Blumen, und die Luft war von Bienengesumm erfüllt. Beim Anblick dieser Landschaft vergaß ich meine Grübeleien und konzentrierte mich darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen.
Als der Pfad nach etwa zehn Minuten endete, hatten wir ein Hochplateau erreicht. Dort legten wir eine Rast ein, um uns den Schweiß zu trocknen, zu verschnaufen und einen Schluck Wasser aus unseren Feldflaschen zu nehmen. Reiko suchte sich ein Blatt, auf dem sie Flöte spielen konnte.
Der Weg, zu dessen beiden Seiten sich hohe Grasähren wiegten, führte nun wieder sanft bergab. Nach etwa einer Viertelstunde kamen wir durch ein verlassenes Dorf, das aus etwa einem Dutzend verfallener Häuser bestand. Keine Menschenseele war zu sehen. Hüfthoch stand das Gras zwischen den Häusern, und in den rissigen, löchrigen Mauern klebte weißer, eingetrockneter Taubendreck. Von einem Haus waren nur noch die Balken übrig, während andere noch so intakt aussahen, als müßte man nur die Läden öffnen, um sofort einziehen zu können. Wir folgten dem Weg, der wie eingezwängt zwischen diesen toten, verstummten Häusern durch das Dorf führte.
»Vor sieben, acht Jahren haben hier noch Leute gewohnt«, erzählte Reiko. »Felder gab es auch. Aber sie sind alle fortgezogen. Das Leben ist hier einfach zu hart. Im Winter waren sie eingeschneit, und der Boden ist auch nicht besonders fruchtbar. Mit jeder Arbeit in der Stadt läßt sich auf leichtere Weise mehr verdienen.«
»Was für eine Verschwendung. Mindestens zehn von den Häusern sehen noch bewohnbar aus«, sagte ich.
»Irgendwann haben sich einmal ein paar Hippies hier niedergelassen, aber der Winter hat auch sie in die Flucht geschlagen.«
Ein Stück hinter dem verlassenen Dorf gelangten wir zu einer großen Einfriedung, die als Weide zu dienen schien, denn auf der gegenüberliegenden Seite grasten Pferde. Als wir am Zaun entlanggingen, rannte ein großer Hund schwanzwedelnd auf uns zu, sprang an Reiko hoch und beschnupperte ihr Gesicht; dann stürzte er sich verspielt auf Naoko. Ich stieß einen Pfiff aus, worauf er mir mit seiner langen Zunge schlabbernd die Hände leckte.
»Der Hund gehört zu der Weide«, erklärte mir Naoko, während sie ihm den Kopf streichelte. »Er ist bestimmt schon fast zwanzig Jahre alt. Die Zähne fallen ihm aus, und er kann nicht mehr richtig beißen. Den lieben langen Tag liegt er vor dem Café und döst, aber kaum hört er Schritte, kommt er angewetzt.«
Als Reiko ein Stück Käse aus ihrem Rucksack nahm, schnupperte der Hund, sprang hoch und biß begeistert hinein.
»Lange werden wir seine Gesellschaft nicht mehr genießen können«, sagte Reiko bedauernd. »Mitte Oktober werden die Pferde und Kühe auf Lastwagen getrieben und ins Tal gebracht. Nur im Sommer grasen sie auf der Weide, wenn das Café für die Touristen geöffnet ist – naja, für die ungefähr zwanzig Ausflügler am Tag. Wollen wir was trinken?«
»Klar«, sagte ich.
Der Hund führte uns zum Café, das sich als ein kleines, weiß gestrichenes Haus mit einer Veranda entpuppte, von dessen Dachtraufe ein verblichenes Schild in Form einer Kaffeetasse hing. Der Hund tapste uns voraus auf die Veranda und streckte sich dort schläfrig aus. Als wir uns an einem Tisch niedergelassen hatten, kam aus dem Haus ein Mädchen mit Pferdeschwanz, in Sweatshirt und weißen Jeans, und begrüßte Reiko und Naoko sichtlich erfreut.
Reiko stellte mich vor. »Das ist ein Freund von Naoko.«
»Guten Tag«, sagte sie.
»Guten Tag.«
Während die drei Frauen sich unterhielten, kraulte und kratzte ich dem alten Hund, der nun unter dem Tisch lag, den rauhen, sehnigen Hals. Er schloß die Augen und schnaufte wohlig.
»Wie heißt er denn?« fragte ich die
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