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Naokos Laecheln

Naokos Laecheln

Titel: Naokos Laecheln Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Nachmittags werde ich allmählich traurig, und den Abend mag ich am wenigsten. So wiederholt sich das Tag für Tag.«
    »Und so wirst du immer älter, bis du eines Tages so alt bist wie ich. Es wird Morgen, es wird Abend, und ehe man sich versieht, ist man alt«, erklärte Reiko fröhlich.
    »Aber Reiko, dir macht es doch gar nichts aus, älter zu werden«, sagte Naoko.
    »Älter zu werden ist kein großes Vergnügen, aber noch einmal jung sein möchte ich auch nicht.«
    »Warum denn nicht?« fragte ich.
    »Zu anstrengend.« Weiter Proud Mary pfeifend, pfefferte Reiko ihren Besen in den Schuppen und schloß die Tür.
    Im Haus tauschten die Frauen ihre Gummistiefel gegen Turnschuhe ein, denn jetzt stand Gartenarbeit auf dem Programm. Da gebe es nichts Interessantes zu sehen, außerdem sei es Teil einer Gruppenaktivität; ich solle lieber in der Wohnung bleiben und lesen, schlug Reiko vor. »Und unter dem Waschbecken steht ein Eimer voll schmutziger Unterwäsche. Die müßte gewaschen werden.«
    »Sie nehmen mich auf den Arm, oder?« fragte ich verdutzt.
    »Klar.« Reiko lachte. »Was denn sonst? Ist er nicht süß, Naoko?«
    »Doch, wirklich.« Auch Naoko mußte lachen.
    »Ich werde für meine Deutsch-Klausur lernen«, sagte ich seufzend.
    »Braver Junge. Lern nur fleißig, bis zum Mittagessen sind wir zurück.« Kichernd gingen sie hinaus. Die Schritte und Stimmen von Leuten, die unter dem Fenster vorbeikamen, drangen zu mir herauf.
    Ich ging ins Bad und wusch mir noch einmal das Gesicht, borgte mir einen Nagelknipser und schnitt mir die Nägel. Dafür, daß das Bad von zwei Frauen benutzt wurde, war es sehr karg bestückt. Außer Gesichtsreiniger, einer Lippencreme, Sonnenschutzmittel und Körperlotion verwendeten sie offenbar so gut wie keine Kosmetika. Nach dem Nägelschneiden machte ich mir in der Küche Kaffee, trank ihn und konzentrierte mich dabei auf mein Deutschlehrbuch, das ich aufgeschlagen auf dem Küchentisch liegen hatte. Als ich so im T-Shirt in der sonnendurchfluteten Küche saß und mich daran machte, die Formen in einer Grammatiktabelle auswendig zu lernen, beschlich mich das sonderbare Gefühl, zwischen den unregelmäßigen deutschen Verben und diesem Küchentisch bestünde eine unvorstellbar große, nicht zu überbrückende Distanz.
    Nachdem die beiden Frauen gegen halb elf von der Gartenarbeit zurück waren, geduscht und sich umgezogen hatten, aßen wir zu dritt im Speisesaal zu Mittag und brachen dann zu unserer Wanderung auf. Diesmal war der Wachmann am Tor auf seinem Posten, wie es sich gehörte, und verzehrte gerade am Schreibtisch genüßlich sein Mittagessen, das man ihm anscheinend aus dem Speisesaal herübergebracht hatte. Aus dem Radio auf dem Regal ertönte eine Schnulze. Als wir uns näherten, hob er zur Begrüßung die Hand, und auch wir sagten höflich Guten Tag.
    Reiko erklärte ihm, daß wir drei einen Spaziergang außerhalb des Geländes machen und in etwa drei Stunden zurück sein würden. »Bitte, bitte, ist ja schönes Wetter. Nur den Weg ins Tal sollten Sie meiden, weil er vom letzten Regen so stark ausgespült ist. Sonst gibt’s nirgendwo ein Problem«, sagte der Wachmann. Reiko trug ihren und Naokos Namen samt Datum und Uhrzeit in eine Abwesenheitsliste ein.
    »Bis später. Passen Sie gut auf sich auf«, rief der Wachmann uns nach.
    »Ein netter Mann«, bemerkte ich.
    »Auch wenn er nicht alle Tassen im Schrank hat.« Reiko tippte sich mit dem Finger an die Stirn.
    Aber mit dem Wetter hatte er recht gehabt. Am blauen, blankgefegten Himmel hing nur ein zarter weißer Wolkenschleier, wie versuchsweise mit einem einzigen Pinselschwung aufgetragen. Eine Weile gingen wir an der niedrigen Mauer des Erholungsheims Ami entlang und schlugen dann einen steilen, schmalen Pfad ein, den wir schweigend im Gänsemarsch hinaufstiegen. Reiko ging voran, Naoko in der Mitte, und ich bildete die Nachhut. Mit sicheren Schritten stieg Reiko den schmalen Pfad hinauf, wie jemand, der die Berge kennt wie seine Westentasche. Naoko trug Blue Jeans und eine weiße Bluse, ihre Jacke hatte sie sich über den Arm gelegt. Im Gehen beobachtete ich, wie ihr schulterlanges Haar hin- und herschwang. Ab und zu drehte sie sich zu mir herum, und wenn unsere Blicke sich trafen, lächelte sie. Der Weg führte lange bergauf, aber Reiko dachte nicht daran, das Tempo zu drosseln. Naoko wischte sich zwar mitunter den Schweiß ab, aber sie fiel nicht zurück. Da ich schon seit einer ganzen Weile nicht mehr in den

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