Naokos Laecheln
und für mich eine Art Durchbruch bedeutete. So gut klappten unsere Stunden.
Wie gesagt, ihre Technik war eher schlecht, und eine Karriere als Musikerin wäre sowieso nicht mehr in Frage gekommen, also konnte ich die Sache gelassen angehen. Zudem ging sie auf eine Mädchenschule, die bei halbwegs anständigen Noten wie eine Rolltreppe zur Universität führen würde, so daß sie sich auch dort kein Bein auszureißen brauchte. Ihre Mutter war ohnehin dafür, ›es leicht zu nehmen‹. Darum setzte ich sie nicht unter Druck. Schon als ich sie das erste Mal sah, wußte ich, daß sie zu den Kindern gehörte, bei denen man mit Druck gar nichts erreicht. Sie tat nur, was ihr gefiel. Also ließ ich sie zuerst spielen, wie es ihr gefiel, hundert Prozent so, wie es ihr gefiel. Als nächstes spielte ich ihr das gleiche Stück auf verschiedene Arten vor, und wir besprachen gemeinsam, welche Version die beste war oder ihr am besten gefiel. Schließlich ließ ich sie das Stück noch einmal spielen, und es gelang ihr immer viel besser als beim ersten Mal, weil sie sich die besten Passagen herauspickte und sie übernahm.«
Reiko holte Atem und betrachtete die Glut ihrer Zigarette. Ich aß schweigend meine Trauben.
»Ich glaube, ich habe ein ziemlich gutes Gespür für Musik, aber ihres war noch besser. Wie schade, dachte ich damals. Hätte sie schon von klein auf einen guten Lehrer und richtigen Unterricht gehabt, hätte sie so viel weiter sein können. Das bildete ich mir damals ein, aber das war ein großer Irrtum. Im Grunde war dieses Kind für einen konventionellen, geregelten Unterricht ungeeignet. Solche Menschen gibt es. Sie haben eine große Begabung, aber es ist zu anstrengend für sie, sie systematisch zu entfalten. Sie zerstückeln ihr Talent in kleine Häppchen und vergeuden es auf diese Weise. Ich habe schon viele solcher Menschen kennengelernt. Am Anfang hält man sie für erstaunlich begabt. Es gibt zum Beispiel Leute, die können ein höllisch schwieriges Stück sofort spielen, nachdem sie es nur einmal überflogen haben. Und sogar gut spielen. Wen man das sieht, ist man überwältigt. Das könnte ich nie! Aber das war’s dann auch. Weiter kommen sie nicht. Und warum nicht? Weil sie die Anstrengung scheuen. Weil man ihnen keine Disziplin beigebracht hat. Sie sind verwöhnt. Ihre Begabung hat ausgereicht, um ihnen als Kindern mühelos das Lob der Erwachsenen zu sichern, drum finden sie jede Anstrengung überflüssig. Wozu andere Kinder drei Wochen brauchen, das schaffen sie in der Hälfte der Zeit, also stellt ihnen der Lehrer die nächste Aufgabe, die sie wieder in der Hälfte der Zeit bewältigen. Und immer so weiter. Auf diese Weise lernen sie nie, was Mühe heißt, und in ihrer Charakterbildung fehlt ein wichtiges Element. Das ist tragisch. Ich habe selbst solche Tendenzen gehabt, aber zu meinem Glück hatte ich sehr strenge Lehrer und lernte, dagegen anzugehen.
Trotzdem machte es Spaß, das Mädchen zu unterrichten. Es war, wie auf der Autobahn einen tollen Sportwagen zu fahren, der auf die leiseste Berührung reagiert – manchmal vielleicht zu rasch reagiert. Ein Kniff beim Unterricht mit Kindern besteht darin, sie nicht zu sehr zu loben, denn wer von klein auf ständig gelobt wird, gewöhnt sich daran und hält Lob für selbstverständlich. Man muß es klug dosieren. Außerdem darf man Kindern nichts aufzwingen, man muß sie selbst wählen lassen. Natürlich darf man ihnen nicht gestatten, von einer Sache zur nächsten zu rennen, sondern muß sie dazu bringen, durchzuhalten und nachzudenken. Aber das ist beinahe schon alles. Wenn man das tut, erzielt man gute Ergebnisse.«
Reiko warf ihre Kippe auf den Boden und trat sie aus. Dann holte sie tief Luft, wie um sich zu beruhigen.
»Nach unseren Stunden tranken wir immer zusammen Tee und plauderten ein bißchen. Manchmal spielte ich ihr Jazzstücke vor, Bud Powell oder Thelonious Monk zum Beispiel. Aber meistens redete sie. Und erzählen konnte sie – richtig mitreißend. Wie gesagt, das meiste war erfunden, aber sie war eine talentierte Erzählerin mit einer scharfen Beobachtungsgabe, sie war scharfzüngig, hatte einen ätzenden Humor und sprach einen vor allem emotional an. Ja, das war ihre eigentliche Stärke: einem Gefühle zu entlocken, einen zu rühren. Und sie wußte, daß sie diese Macht besaß, und setzte sie so raffiniert und wirkungsvoll wie möglich ein. Sie verstand es, in ihrem Gegenüber jedes Gefühl zu erwecken – Zorn, Trauer, Mitleid,
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