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Naokos Laecheln

Naokos Laecheln

Titel: Naokos Laecheln Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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nicht will, dann das. Ich will dein Leben nicht zerstören. Niemandes Leben. Ich möchte nur, daß du mich ab und zu besuchst und mich nie vergißt. Mehr nicht.«
    »Aber ich möchte nur das«, sagte ich.
    »Wenn du dich mit mir einläßt, verschwendest du dein Leben.«
    »Ich verschwende gar nichts.«
    »Aber es kann sein, daß ich nie gesund werde. Willst du ewig auf mich warten? Willst du zehn oder zwanzig Jahre warten?«
    »Du läßt dich von zu vielem verängstigen«, sagte ich. »Von der Finsternis, von Alpträumen, von der Macht der Toten. Das darfst du nicht. Wenn du das alles hinter dir läßt, wirst du bestimmt gesund.«
    »Wenn das so einfach wäre.« Naoko schüttelte den Kopf.
    »Magst du mit mir zusammenleben, wenn du das Heim verlassen kannst?« fragte ich. »Dann könnte ich dich vor der Dunkelheit und den bösen Träumen beschützen. Reiko wäre nicht da, aber ich würde dich im Arm halten, wenn es schlimm wird.«
    Naoko schmiegte sich noch enger an meinen Arm. »Das wäre wunderbar«, sagte sie.
    Kurz vor drei kamen wir wieder im Café an. Reiko las und hörte dabei das Zweite Klavierkonzert von Brahms im Radio. Es kam mir wundervoll vor, Brahms am Rande einer großen Wiese zu hören, ohne einen Menschen in Sicht. Reiko pfiff den Cello-Part mit, mit dem der dritte Satz beginnt.
    »Backhaus und Böhm«, sagte sie. »Früher einmal habe ich diese Platte gehört, bis sie völlig abgenutzt war.«
    Naoko und ich bestellten Kaffee.
    »Konntet ihr reden?« erkundigte sich Reiko bei Naoko.
    »Ja, eine Menge.«
    »Und später erzählst du mir ganz genau, was ihr noch so getrieben habt.«
    Naoko wurde rot. »So was haben wir gar nicht gemacht.«
    »Wirklich? Gar nicht?« richtete Reiko die Frage an mich.
    »Nein«, sagte ich.
    »Wie langweilig!« sagte Reiko mit betont gelangweilter Miene.
    »Stimmt«, sagte ich und schlürfte meinen Kaffee.

6. Kapitel
    Das Abendessen im Speisesaal verlief haargenau wie am Vortag. Die Atmosphäre, die Stimmen, die Gesichter waren die gleichen, nur der Speisezettel hatte sich geändert. Der Mann im weißen Kittel, der am Abend zuvor über die Produktion von Verdauungssäften bei Schwerelosigkeit gesprochen hatte, setzte sich an unseren Tisch und referierte lange über die Korrelation zwischen Gehirnvolumen und Intelligenz. Während wir unsere Soja-Bratlinge verzehrten, lauschten wir seinen Ausführungen über den Umfang der Gehirne von Bismarck und Napoleon. Er schob seinen Teller zur Seite und zeichnete mit einem Kugelschreiber Skizzen von Gehirnen auf einen Block, wobei er mehrmals ›nein, falsch‹ rief und von neuem begann. Als er fertig war, verstaute er den Block sorgsam in einer Tasche seines weißen Kittels und schob den Kugelschreiber in die Brusttasche, in der sich insgesamt drei Kugelschreiber, ein Bleistift und ein Lineal befanden. Nach dem Essen wiederholte er seine Bemerkung vom Tag zuvor: »Im Winter ist es herrlich hier. Kommen Sie nächstes Mal unbedingt im Winter.« Damit verließ er den Saal.
    »Ist er Arzt oder Patient?« fragte ich Reiko.
    »Was schätzen Sie?«
    »Ich kann’s nicht sagen. Auf jeden Fall kommt er mir nicht ganz normal vor.«
    »Er ist Arzt und heißt Dr. Miyata«, sagte Naoko.
    »Ja schon, aber ich halte ihn für den Verrücktesten von uns allen«, ergänzte Reiko.
    »Aber Herr Ōmura, der Torwächter, ist auch ziemlich daneben«, sagte Naoko.
    »Stimmt.« Reiko nickte und spießte mit der Gabel ein Brokkoliröschen auf. »Jeden Morgen macht er verrückte Gymnastikübungen und brüllt dazu unverständliches Zeug. Vor Naokos Zeit gab es in der Buchhaltung ein Fräulein Kimura, das versucht hat, sich umzubringen. Und im letzten Jahr wurde ein Pfleger namens Tokushima entlassen, weil er ein starker Alkoholiker war.«
    »Das klingt, als könnten die Patienten und das Personal auch die Plätze tauschen«, sagte ich.
    »Genauso ist es.« Reiko schwenkte ihre Gabel. »Allmählich begreifen Sie, wie es hier läuft.«
    »Scheint so.«
    »Das Normalste an uns ist: wir wissen, daß wir nicht normal sind«, erklärte Reiko.
    In der Wohnung spielten Naoko und ich Karten, während Reiko auf der Gitarre Bach übte.
    »Um wieviel Uhr wollen Sie morgen fort?« fragte mich Reiko, als sie eine Zigarettenpause machte.
    »Nach dem Frühstück. Der Bus kommt kurz nach neun. Dann bin ich abends rechtzeitig zur Arbeit in Tōkyō.«
    »Schade, daß Sie nicht ein bißchen mehr Zeit haben.«
    »Dann würde ich vielleicht hier hängenbleiben«, sagte ich

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