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Naokos Laecheln

Naokos Laecheln

Titel: Naokos Laecheln Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Enttäuschung oder Freude. Und sie manipulierte die Gefühle anderer aus keinem anderen Grund, als um zu sehen, wie weit ihre Macht reichte. Das habe ich natürlich erst viel später begriffen. Zunächst ahnte ich nicht einmal, was sie mir antat.«
    Reiko schüttelte den Kopf und nahm sich von den Trauben.
    »Es war eine Krankheit. Das Mädchen glich dem faulen Apfel, der alle anderen Äpfel verdirbt. Und niemand konnte sie davon heilen. Bis zu ihrem Tod wird sie diese Krankheit behalten. Wenn man sich das vor Augen führt, ist sie natürlich ein armes Ding. Bemitleidenswert. Wenn ich nicht selbst ihr Opfer geworden wäre, würde ich in ihr ein Opfer sehen.«
    Reiko aß noch ein paar Trauben. Anscheinend überlegte sie, wie sie mit ihrer Geschichte am besten fortfahren sollte.
    »Jedenfalls hatten wir ein halbes Jahr lang viel Spaß miteinander. Hin und wieder kam es vor, daß sie etwas sagte, das ich ein bißchen abwegig fand. Manchmal erschrak ich auch zutiefst, wenn ich merkte, daß ihr intensiver Haß auf irgendeine Person jedes vernünftige Maß überstieg. Oder sie erschien mir plötzlich so gerissen, daß ich mich fragte, was wirklich in ihrem Kopf vorging. Aber haben wir nicht alle unsere Fehler? Schließlich war ich nur ihre Klavierlehrerin. Stand es mir denn zu, über ihren Charakter oder ihre Persönlichkeit zu urteilen? Mich ging nur eins an – ob sie übte oder nicht. Zudem hatte ich sie gern. Ja, es ist wahr, ich hatte sie sehr gern.
    Allerdings hütete ich mich instinktiv davor, ihr persönliche Dinge anzuvertrauen. Obwohl sie mich mit Fragen löcherte – sie wollte dringend mehr über mich erfahren, gab ich nur Belanglosigkeiten aus meiner Kindheit und Schulzeit preis, mehr nicht. Über mich gebe es nichts zu erzählen, mein Leben sei langweilig – ein durchschnittlicher Ehemann, ein Kind und jede Menge Hausarbeit. ›Aber ich habe Sie so lieb‹, sagte sie dann und schaute mir treuherzig in die Augen. Es ging mir durch und durch, wenn sie mich so ansah. Kein unangenehmes Gefühl. Dennoch erzählte ich ihr nie mehr als nötig.
    Und dann eines Tages – im Mai, glaube ich – sagte sie plötzlich während des Unterrichts, ihr sei übel. Sie sah wirklich blaß aus, und Schweiß stand ihr auf der Stirn. Möchtest du lieber nach Hause gehen? fragte ich sie, aber sie sagte, sie wolle sich lieber ein bißchen hinlegen. Weil unser Sofa zu winzig war, brachte ich sie ins Schlafzimmer – ich mußte sie fast tragen – und legte sie auf mein Bett. Sie entschuldigte sich für die Umstände, die sie mir mache, und ich beruhigte sie. Ein Glas Wasser trinken wollte sie auch nicht, ich sollte einfach nur bei ihr bleiben, was ich natürlich tat.
    Kurz darauf bat sie mich mit leidender Stimme, ihr doch ein wenig den Rücken zu massieren. Da ich sah, daß sie stark schwitzte, massierte ich ihr den Rücken, so gut ich konnte. Als nächstes bat sie mich, ihren BH zu öffnen, er kneife. Und ich tat es, was weiß ich, warum. Sie hatte eine enge Bluse an, also mußte ich die erst aufknöpfen, um den BH öffnen zu können. Für eine Dreizehnjährige hatte sie recht volle Brüste, doppelt so groß wie meine. Und sie trug auch keinen Jungmädchen-BH, sondern ein teures Modell für Damen. Natürlich achtete ich damals nicht sonderlich darauf, sondern massierte ihr wie eine Idiotin den Rücken, während sie sich weiter im jämmerlichsten Ton entschuldigte und ich sie zu beruhigen versuchte.«
    Reiko schnippte ihre Asche auf den Boden. Inzwischen hatte ich aufgehört, Trauben zu futtern und hörte ihr gespannt zu.
    »Als nächstes fing sie an zu weinen. ›Was hast du denn?‹ fragte ich.
    ›Nichts, gar nichts.‹
    ›offensichtlich ist doch etwas. Sag es mir ehrlich.‹
    ›Manchmal wird mir so, ich weiß nicht wie. Dann fühle ich mich so verlassen und traurig. Mit keinem Menschen kann ich reden, und niemand hat mich lieb. Das tut so weh. Nachts kann ich nicht schlafen, und essen mag ich auch nichts. Die Stunde bei Ihnen ist das einzige, worauf ich mich noch freue.‹
    ›Sag mir, woher das kommt. Ich höre dir zu.‹
    Nun erzählte sie mir von Problemen in der Familie. Sie könne ihre Eltern nicht lieben, und ihre Eltern liebten sie auch nicht. Ihr Vater habe ein Verhältnis mit einer anderen Frau und sei kaum zu Hause. Ihre Mutter sei deswegen außer sich und lasse es an der Tochter aus. Fast jeden Tag werde sie geschlagen und traue sich kaum noch nach Hause. Inzwischen schluchzte sie wirklich herzerweichend, und die

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