Naokos Laecheln
abgedunkelten Zimmer. Aber selbst in diesen Phasen war sie nicht launisch. Wenn ich aus der Schule zurückkam, rief sie mich an ihr Bett und fragte mich nach meinen Erlebnissen. Ich berichtete ihr, was ich mit meinen Freundinnen gespielt hatte, was die Lehrer gesagt hatten und welche Noten ich bekommen hatte. Sie hörte aufmerksam zu, gab mir Tips und machte Vorschläge. Aber wenn ich wieder gegangen war – um mit meinen Freundinnen zu spielen oder zum Ballettunterricht –, versank sie wieder in ihren geistesabwesenden Zustand. Nach zwei Tagen war der Spuk vorbei, und sie ging wieder munter zur Schule, als wäre nichts gewesen. Ungefähr vier Jahre lang ging das so. Anfangs machten sich meine Eltern Sorgen und holten anscheinend auch den Rat eines Arztes ein, aber da nach zwei Tagen immer alles wie weggeblasen war, meinten sie wohl, es würde sich schon von selbst geben. Sie war ja so ein intelligentes und vernünftiges Mädchen.
Nach ihrem Tod hörte ich einmal, wie meine Eltern sich über einen jüngeren Bruder meines Vaters unterhielten, der schon vor langer Zeit gestorben war. Auch er war sehr begabt gewesen, hatte aber zwischen seinem siebzehnten und seinem einundzwanzigsten Lebensjahr – vier Jahre lang! – das Haus nicht verlassen. Und dann ging er eines Tages plötzlich aus und warf sich vor einen Zug. Mein Vater sagte, vielleicht liege diese Art von geistiger Verwirrung in der Familie, von seiner Seite.«
Beim Erzählen zupfte Naoko gedankenverloren die Samen von der Grasähre, bis der Wind sie davongetragen hatte, und wand dann den nackten Halm wie eine Schnur um ihre Finger.
»Ich war es, die damals meine tote Schwester gefunden hat«, fuhr Naoko fort, »an einem trüben, regnerischen Novembertag, als ich in der sechsten und meine Schwester in der zwölften Klasse war. Um halb sieben kam ich von der Klavierstunde. Meine Mutter war gerade dabei, das Abendessen zu machen. Das Abendessen ist gleich fertig, hol deine Schwester, bat sie mich. Ich ging in den ersten Stock, klopfte an ihre Zimmertür, aber sie gab keine Antwort, es blieb alles still. Das kam mir komisch vor, also klopfte ich noch mal und öffnete leise die Tür. Ob sie wohl eingeschlafen war? Aber sie schlief nicht. Sie stand im Fenster, ihr Hals war ein wenig zur Seite gebogen – so etwa – und starrte hinaus. Als dächte sie über etwas nach. Es war dunkel im Zimmer, das Licht war aus, und ich konnte nur Schemen erkennen. ›Was machst du denn da? Es gibt gleich Essen‹, sagte ich. Da merkte ich, daß sie irgendwie größer war als sonst. Ich wunderte mich. Hatte sie hohe Absätze an? Oder stand sie irgendwo drauf? Als ich näher an sie heranging und gerade wieder etwas sagen wollte, sah ich es. Über ihrem Kopf war ein Strick, der gerade von der Decke herunterhing – unnatürlich gerade. Wie mit dem Lineal gezogen. Meine Schwester hatte eine weiße Bluse an – genau so eine wie ich heute, ganz schlicht – und einen grauen Rock. Sie schien auf Zehenspitzen zu stehen, wie eine Ballerina, nur daß ihre Zehenspitzen etwa zwanzig Zentimeter über dem Boden schwebten. Ich nahm alle Einzelheiten in mich auf. Auch ihr Gesicht. Ich konnte nicht anders. Ich dachte, ich muß sofort runterlaufen und Mutter Bescheid sagen, ich muß schreien. Aber mein Körper gehorchte mir nicht. Mein Körper bewegte sich in eine völlig andere Richtung als mein Bewußtsein. Während mein Verstand mir befahl, auf der Stelle meine Mutter zu holen, versuchte mein Körper eigenmächtig, meine Schwester von dem Strick zu befreien. Das überstieg natürlich die Kräfte eines Kindes, und ich blieb für fünf, sechs Minuten da stehen, abwesend und wie erstarrt. Ich wußte nicht mehr, was ich tat. Als ob etwas in meinem Inneren gestorben wäre. Bis meine Mutter endlich kam, um nachzusehen, was los war, blieb ich bei meiner Schwester, an diesem dunklen, kalten Ort…«
Naoko schüttelte den Kopf.
»Drei Tage lang konnte ich nicht sprechen. Ich lag mit weit aufgerissenen Augen wie tot im Bett. Ich wußte nicht, was geschehen war.« Naoko schmiegte sich an meinen Arm. »Ich hab’s dir ja geschrieben: die Wurzeln meiner Krankheit reichen tiefer, als du denkst. Darum möchte ich, daß du deinen Weg ohne mich gehst, wenn du kannst, und nicht auf mich wartest. Wenn du mit anderen Mädchen schlafen möchtest, tu das ruhig. Laß dich nicht durch Gedanken an mich von etwas abbringen. Tu ganz unbefangen, was dir gefällt. Sonst ziehe ich dich vielleicht mit, und wenn ich eins
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