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Naokos Laecheln

Naokos Laecheln

Titel: Naokos Laecheln Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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aufgekochte Druckerschwärze schmeckte. An diesem Sonntagmorgen waren die Bahnen voller Paare und Familien, die Ausflüge unternahmen. Eine Gruppe von Jungen mit Baseballschlägern und einheitlichen Trikots tobte durch den Zug. Viele Mädchen in der Bahn trugen kurze Röcke, aber keine einen so kurzen wie Midori. Ab und zu zupfte sie daran. Es machte mich nervös, daß ein paar Männer auf ihre Oberschenkel stierten, aber sie schien es nicht zu stören.
    »Weißt du, was ich jetzt gern machen würde?« flüsterte Midori mir in der Höhe von Ichigaya zu.
    »Keine Ahnung«, sagte ich. »Aber bitte sprich hier in der Bahn nicht von solchen Sachen. Die Leute können dich hören.«
    »Schade. Diesmal wär’s eine ziemlich wilde Geschichte geworden«, sagte Midori, sichtlich enttäuscht.
    »Was wollen wir denn überhaupt in Ochanomizu?«
    »Das wirst du dann schon sehen.«
    Wegen der vielen Paukschulen in Ochanomizu wimmelte es dort sonntags von Mittel- und Oberstufenschülern auf dem Weg zum Nachhilfeunterricht und zu ihren Probeklausuren. Wir drängelten uns durch die Scharen von Schülern, wobei Midori mit der linken Hand den Riemen ihrer Schultertasche festhielt und mit der rechten meine Hand.
    »Du, Tōru? Kannst du mir den Unterschied zwischen dem Konjunktiv Präsens und dem Konjunktiv Imperfekt im Englischen erklären?« fragte sie mich unvermittelt.
    »Ich glaub schon«, sagte ich.
    »Dann kannst du mir sicher auch die Frage beantworten, wozu so was im Alltagsleben nützt.«
    »Zu nichts. Im Alltag mag es zwar zu nichts Konkretem dienen«, erwiderte ich. »Aber es gibt einem Gelegenheit, sich im systematischen Denken zu üben, finde ich.«
    Darüber dachte Midori anscheinend eine Weile ernsthaft nach. »Du bist wirklich gescheit«, sagte sie. »So habe ich das noch nie betrachtet. Ich habe solches Zeug wie Konjunktiv oder Differentialrechnung oder chemische Formeln immer für völlig sinnlos gehalten. Und es ignoriert, weil’s mir zu kompliziert war. Vielleicht war das ein großer Fehler.«
    »Du hast das alles ignoriert?«
    »Klar, als wäre es nicht vorhanden. Ich habe keinen Schimmer, was Sinus und Cosinus bedeutet.«
    »Aber du hast doch die Schule abgeschlossen und bist auf der Uni!« Ich war fassungslos.
    »Sei nicht albern«, sagte Midori. »Dazu braucht man doch nichts zu wissen. Die Uni-Aufnahmeprüfung kann man mit Intuition bestehen, auch wenn man keine Ahnung hat. Ich habe eine Menge Intuition. Wenn da steht ›Wählen Sie die korrekte Antwort aus den folgenden drei‹, weiß ich sofort, welche die richtige ist.«
    »Ich habe nicht so eine gute Intuition wie du, drum muß ich bis zu einem gewissen Grad systematisch denken lernen. Wie eine Krähe in einem Astloch Glasscherben sammelt.«
    »Nützt das etwas?«
    »Das ist die Frage. Vielleicht fällt einem dadurch manches leichter.«
    »Was zum Beispiel?«
    »Metaphysisches Denken oder mehrere Sprachen zu erlernen.«
    »Und was hat man davon?«
    »Kommt auf die Person an. Für manche Leute hat es einen Zweck, für andere nicht. Hauptsächlich dient es jedoch der Übung. Ob es zu etwas nützt, ist eine andere Frage, wie gesagt.«
    »Hmm«, machte Midori, offenbar beeindruckt. Hand in Hand gingen wir bergab. »Du kannst wirklich gut erklären, Tōru.«
    »Findest du?«
    »Und wie! Ich hab alle möglichen Leute gefragt, zu was der englische Konjunktiv gut ist, aber niemand hat es mir so einleuchtend erklärt. Nicht einmal mein Englischlehrer. Alle, denen ich die Frage gestellt habe, waren entweder verwirrt, haben sich geärgert oder sich über mich lustig gemacht. Niemand hat mir je eine ordentliche Antwort gegeben. Wenn jemand wie du mir das richtig erklärt hätte, hätte ich mich vielleicht sogar für den Konjunktiv interessiert.«
    »Hm«, machte ich.
    »Hast du Das Kapital gelesen?« fragte Midori.
    »Ja. Natürlich nicht ganz, nur Teile davon. Wie die meisten.«
    »Hast du’s verstanden?«
    »Manches ja, manches nein. Man muß sich die zugrundeliegenden Denkstrukturen aneignen, um ein Buch wie Das Kapital richtig lesen zu können. Aber ich glaube, die Grundideen des Marxismus habe ich einigermaßen verstanden.«
    »Meinst du, jemand im ersten Semester, der solche Bücher noch nicht gelesen hat, könnte das Kapital einfach so verstehen?«
    »Fast ausgeschlossen, würde ich sagen.«
    »Weißt du, als ich mit dem Studium angefangen habe, bin ich in eine Volksmusik-Gruppe eingetreten, weil ich singen wollte. Das war vielleicht ein Schwindel – mir graut

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