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Naokos Laecheln

Naokos Laecheln

Titel: Naokos Laecheln Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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jedenfalls, wovon ich rede. Weil ich aus dem Volk stamme. Revolution hin oder her, das Volk muß es ausbaden und weiter mühselig für seinen Lebensunterhalt schuften. Und was ist das denn, eine Revolution? Doch ganz sicher nicht bloß was, wo sich die Namen im Rathaus ändern. Aber davon haben diese großmäuligen Typen keine Ahnung. Sag mal, Watanabe, bist du schon mal einem Steuerprüfer begegnet?«
    »Noch nie.«
    »Ich schon oft. Sie kommen frech ins Haus und spielen sich auf. ›Wozu dient dieses Kassenbuch?‹ ›Sie führen ja ziemlich lässig Buch.‹ ›Das nennen Sie Betriebsausgaben?‹ ›Dann zeigen Sie mir sämtliche Quittungen, und zwar sofort.‹ Die ganze Zeit darf man sich nicht mucksen, nur wenn es Zeit zum Essen wird, muß man beim teuersten Restaurant Sushi für sie bestellen. Dabei hat mein Vater kein einziges Mal Steuern hinterzogen. Ehrlich. So ist er eben, altmodisch und kerzengerade. Aber erzähl das mal so einem schleimigen Steuerprüfer. ›Ihre Einnahmen sind auffällig gering, finden Sie nicht?‹ Klar sind die Einnahmen gering, wenn man nichts verdient. Es ist nicht zum Anhören. Am liebsten hätte ich den Kerl angeschrien, er soll doch hingehen, wo’s was zu holen gibt. Glaubst du, die Steuereintreiber würden sich nach der Revolution anders benehmen?«
    »Das bezweifle ich schwer.«
    »Damit ist’s für mich also gelaufen. Ich glaub an keine Revolution. Ich glaube nur noch an die Liebe.«
    »Peace«, sagte ich.
    »Peace.«
    »Wohin gehen wir überhaupt?« fragte ich.
    »Ins Krankenhaus. Meinen Vater besuchen. Ich bin heute dran, den Tag bei ihm zu verbringen.«
    »Deinen Vater?« fragte ich verdutzt. »Ich dachte, der ist in Uruguay.«
    »Ach, das war gelogen«, sagte Midori ungerührt. »Er hat früher ewig damit gedroht, aber das hätte nie geklappt. Er schafft es ja kaum, aus Tōkyō rauszukommen.«
    »Geht’s ihm sehr schlecht?«
    »Es ist nur noch eine Frage der Zeit.«
    Wir gingen eine Weile wortlos nebeneinander her.
    »Ich weiß es, weil er die gleiche Krankheit wie meine Mutter hat. Einen Gehirntumor. Unglaublich, was? Vor kaum zwei Jahren ist meine Mutter daran gestorben, und jetzt hat er einen.«
    In den Gängen der Universitätsklinik sorgten Besucher und Patienten mit leichteren Erkrankungen für reges sonntägliches Treiben. Der unverwechselbare Krankenhausgeruch, ein Gemisch aus Desinfektionsmitteln, mitgebrachten Blumensträußen, Urin und Matratzen, hüllte alles ein, und das trockene Geklapper der Schuhe der Krankenschwestern hallte durch alle Gänge. Midoris Vater lag in einem Zweibettzimmer an der Tür, und seine Gestalt erinnerte auf den ersten Blick an ein schwer verwundetes kleines Tier. Der magere, zierliche Mann, der den Eindruck erweckte, daß er von nun an immer mehr zusammenschrumpfen würde, lag regungslos und geschwächt auf der Seite, sein linker Arm, in dem eine Infusionsnadel steckte, hing herunter. Sein Kopf war mit einem weißen Verband umwickelt, und seine bleichen Arme waren von Einstichen übersät, die von Spritzen oder künstlicher Ernährung herrührten. Er starrte mit halbgeschlossenen, blutunterlaufenen Augen in den Raum, richtete aber, als wir das Zimmer betraten, langsam den Blick auf uns. Nach zehn Sekunden wanderten seine Augen ermattet wieder zurück zu jenem Punkt im Raum.
    Daß er bald sterben würde, sah man seinen Augen an. Überhaupt war sein ganzer Körper, in dem kaum noch eine Spur von Leben zu sein schien, vom Tod gezeichnet. Er glich einem verfallenen Haus, aus dem man alles Mobiliar herausgeräumt hat und das nur noch auf seinen endgültigen Abriß wartet. Um seine ausgetrockneten Lippen sprossen wie Unkraut vereinzelte Barthaare. Verwundert nahm ich zur Kenntnis, daß der Bart eines Mannes, aus dem alle Lebenskraft gewichen ist, noch immer wächst.
    Midori begrüßte den rundlichen Mann, der in dem Bett am Fenster lag. Er nickte lächelnd, anscheinend konnte er nicht sprechen. Nachdem er ein paarmal gehustet hatte, nahm er einen Schluck Wasser aus einem Glas neben seinem Kissen und drehte sich zum Fenster, vor dem außer Strommasten und Kabeln nichts zu sehen war. Nicht einmal Wolken am Himmel.
    »Wie geht’s dir, Papa?« fragte Midori ins Ohr ihres Vaters, als teste sie ein Mikrophon. »Wie geht’s dir heute?«
    »Nicht gut«, formte ihr Vater mit den Lippen. Er schien seine Worte mittels trockener Luft hervorzuhauchen. »Kopf«, hauchte er.
    »Hast du Kopfschmerzen?« fragte Midori.
    »Ja.« Mehr als eine Silbe

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