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Naokos Laecheln

Naokos Laecheln

Titel: Naokos Laecheln Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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wider. Ab und zu unterbrach eine Lautsprecherdurchsage das Stimmengewirr; ein Arzt oder eine Schwester wurde gerufen. Während ich einen Tisch freihielt, holte Midori auf einem Aluminiumtablett zwei Mittagsmenüs. Die Speisen – Kroketten, Kartoffelsalat, Krautsalat, gekochtes Gemüse, Reis und Misosuppe – wurden in dem gleichen weißen Plastikgeschirr serviert, das auch die Patienten bekamen. Ich aß nur etwa die Hälfte und ließ den Rest stehen. Aber Midori schien es zu schmecken, denn sie aß alles auf.
    »Hast du keinen Hunger, Tōru?« fragte sie und trank ihren heißen Tee.
    »Nicht besonders.«
    »Das liegt am Krankenhaus.« Sie blickte im Speisesaal umher. »Das geht allen so, die nicht daran gewöhnt sind. Der Geruch, die Geräusche, die abgestandene Luft, die Gesichter der Kranken, Anspannung, Nervosität, Verzweiflung, Erschöpfung – das alles schlägt auf den Magen und verdirbt den Appetit. Wenn man sich einmal daran gewöhnt hat, macht es einem nichts mehr aus. Außerdem kann man einen Kranken nur pflegen, wenn man selbst richtig ißt. Stimmt wirklich. Ich weiß, wovon ich rede, ich habe vier Personen gepflegt: meinen Großvater, meine Großmutter, meine Mutter und nun meinen Vater. Es kann immer passieren, daß man eine Mahlzeit überspringen muß. Darum sollte man essen, solange es möglich ist.«
    »Ich verstehe«, sagte ich.
    »Wenn Verwandte zu Besuch kommen und hier mit mir essen, lassen sie genau wie du immer die Hälfte stehen und sagen: ›Midori hat aber einen gesunden Appetit. Ich könnte nicht so essen, mir geht das alles zu nah.‹ Dabei bin ich diejenige, die den Kranken pflegt. Die anderen kommen nur kurz vorbei, um ihn zu bedauern. Ich bin diejenige, die die Scheiße wegmacht, den Schleim abwischt und ihn abtrocknet. Wenn man allein mit Mitleid Scheiße wegputzen könnte, hätte ich fünfzigmal mehr Mitleid als alle anderen! Trotzdem gucken sie mich schief an, wenn ich mein Essen aufesse. Wofür halten die mich wohl, für einen Esel, der den Wagen zieht? Eigentlich müßten sie alt genug sein, um zu wissen, wie’s auf der Welt so läuft. Den Mund aufreißen kann jeder, aber worauf es ankommt, ist, ob die Scheiße weggeräumt wird oder nicht. Weißt du, ich bin auch nicht unverwundbar. Und manchmal so kaputt, daß mir zum Heulen zumute ist. Da schneiden die Ärzte unentwegt jemandem den Kopf auf und stochern darin herum, obwohl es nichts hilft, jedesmal wird es nur schlimmer, und er wird immer verrückter. Das sollten die mal jeden Tag vor Augen haben. Wie soll ich das aushalten? Unsere ganzen Ersparnisse werden aufgebraucht. Wer weiß, ob ich mir überhaupt noch dreieinhalb Jahre Studium und meine Schwester sich ihre Hochzeit leisten kann.«
    »Wie viele Tage in der Woche kommst du denn her?« fragte ich.
    »Ungefähr vier. Hier wird zwar angeblich rund um die Uhr gepflegt, aber die Krankenschwestern schaffen es einfach nicht. Sie tun ihr Bestes, aber es gibt zu viel Arbeit für zu wenig Personal. Also muß bis zu einem gewissen Grad die Familie einspringen. Meine Schwester kümmert sich ums Geschäft, ich muß zur Uni. Trotzdem kommt sie drei Tage her und ich vier. Ab und zu gönnen wir uns eine Verabredung. Glaub mir, wir haben ein volles Programm.«
    »Aber wieso triffst du dich mit mir, wo du so beschäftigt bist?«
    »Weil ich gern mit dir zusammen bin.« Midori spielte mit ihrem leeren Plastikbecher.
    »Du machst jetzt zwei Stunden einen Spaziergang in der Umgebung«, sagte ich. »Und ich kümmere mich solange um deinen Vater.«
    »Warum?«
    »Du mußt mal ein bißchen raus aus dem Krankenhaus und für dich sein – mit keinem sprechen und einen klaren Kopf bekommen.«
    Midori überlegte einen Moment, dann nickte sie. »Vielleicht hast du recht. Aber weißt du denn, was du tun mußt? Bei meinem Vater, meine ich.«
    »Ich glaub schon, ich hab dir gut zugeguckt. Den Tropf kontrollieren, ihm zu trinken geben, ihm den Schweiß abwischen, ihm beim Ausspucken helfen. Die Bettpfanne steht unter dem Bett, und wenn er Hunger bekommt, gebe ich ihm den Rest vom Mittagessen. Wenn ich etwas nicht weiß, kann ich ja die Schwester fragen.«
    »Du weißt schon ganz gut Bescheid«, sagte Midori lächelnd. »Nur eins noch – er wird jetzt ein bißchen merkwürdig im Kopf und sagt manchmal sonderbare Sachen, die man nicht versteht. Kümmere dich einfach nicht darum.«
    »Ich komme schon zurecht«, sagte ich.
    Im Zimmer sagte Midori ihrem Vater, daß sie etwas zu erledigen habe und ich ihn

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