Naomi & Ely - die Freundschaft, die Liebe und alles dazwischen
meinem Gesicht ablesbar gewesen sein.
»Ich hätte das nicht tun sollen«, sagte Ely. Seine Stimme zitterte plötzlich ein bisschen.
»Nein«, sagte ich.
»Wirklich, ich hätte das nicht tun sollen.«
Er setzte sich auf, und ich lag noch ein paar Sekunden da, auf die leere Stelle starrend, wo er gerade noch gelegen hatte. Dann setzte ich mich auch auf. Und stand auf. Und war auch schon halb aus dem Zimmer hinaus, noch ehe ich es wirklich beschlossen hatte.
Er blieb sitzen, wo er war. Aber er drehte mir das Gesicht zu, als ich im Türrahmen stand. Ich gab Laute von mir, die wie eine Entschuldigung klangen, dass ich so plötzlich losstürmte. Er gab Laute von sich, die klangen, als habe er Verständnis dafür.
Bevor ich endgültig verschwand, sagte er noch: »Ich wollte es.«
Und ich wartete ab, bis ich wirklich beschlossen hatte zu gehen, dann sagte ich zu ihm: »Ich auch.«
Dann war ich fort - zu seiner Zimmertür hinaus, in die Schuhe geschlüpft, nach der Jacke gegriffen, durch die Wohnungstür in den Flur, an ihrer Wohnungstür vorbei, mit dem Fahrstuhl ins Erdgeschoss, aus dem Gebäude hinaus. Ich beschloss, die Straße zu überqueren, ich beschloss, an der Ampel auf Grün zu warten, ich beschloss, die Hände in die Jackentaschen zu stecken. Ich beschloss, dass nichts von all diesen Dingen von Bedeutung war. Nichts von alldem hatte etwas damit zu tun, wer ich war. Ich tat lauter Dinge, doch sie hatten nichts mit mir zu tun.
Die ganze Nacht, den ganzen Vormittag, den ganzen Nachmittag sehne ich mich seither... nach Ely Und ich sehne mich nach Naomi. Ich sehne mich danach, wie einfach das Leben vor vierundzwanzig Stunden gewesen war.
Ich denke viel an ihn.
Ich denke viel an sie.
Aber an ihn muss ich mehr denken.
»Wirklich. Ich mag dich. «
Ich beschließe, mein Handy zu checken, das erste Mal, seit ich aus seinem Zimmer gestürmt bin. Ich beschließe, die drei neuen Nachrichten nicht abzuhören. Ich beschließe, selbst jemand anzurufen. Mich mit der Bedeutung und den Folgen auseinanderzusetzen. Vielleicht etwas mehr von diesem Glücksgefühl zu verspüren.
Ich muss mich nur entscheiden, wen ich anrufen will.
Bruce der Erste
SCHLAFLOSIGKEIT
Ich habe alles versucht. Baldrian, Johanneskraut, Valium, Schäfchen zählen, The Best of Johnny Carson: The 1970s, Charlie Rose: The Present, Charlie Daniels, MTV2, 976-SLUTS 4U, die gesammelten Werke von Dostojewski, die gesammelten Werke von Nicholas Sparks, mir einen runterholen, Jack Daniel’s, alle Jackie-Chan-Filme. Aber nichts und niemand hilft. Ich kann einfach nicht einschlafen.
Daran ist Naomi schuld.
Sie war sieben. Ich war fünf.
Unsere Mütter hatten uns schnell in den Aufzug geschubst, aber während der zwei Sekunden, die sie noch draußen standen, um ihre falsch eingeworfene Post zu sortieren, ging die Aufzugtür zu. Naomi und ich waren unbeaufsichtigt. Der Aufzug fuhr nach oben, und Naomi sagte: »Willst du mein Höschen sehen?« Ich nickte. Sie zog ihr Kleid bis zum Bauchnabel hoch. Sie hatte die gleiche Sorte rosa Unterhöschen mit Gummibund an wie meine Zwillingsschwester Kelly, aber bei Naomi sah das Höschen ganz anders aus. Irgendwie interessant und hübsch statt einfach nur doof. Ich kann mich noch ganz genau an den Augenblick erinnern, als Naomi ihr Kleid wieder zu den Knien runterfallen ließ und mir die Zunge rausstreckte. Weil sie das mit meinem Herzen gesehen hatte? Es war nämlich zu ihr hinübergeflogen und ist seither nicht mehr zu mir zurückgekehrt. Es gehört Naomi, für immer und ewig.
Zeitsprung nach vorn. Zehn Jahre später, letztes Frühjahr. Naomi und ich wieder gleichzeitig im Aufzug, nur diesmal viel größer, kurviger (sie), behaarter (ich). Klar haben wir uns regelmäßig in der Schule und in unserem Apartmenthaus gesehen, aber aus irgendeinem Grund, den das Universum mir bis heute nicht erklären wollte, war es diesmal anders. Naomi musterte mich von Kopf bis Fuß, während der Aufzug hochfuhr. Sie verkündete: »Du hast dich gut gemacht, Kleiner.« - »Hey, ich bin bald mit der Schule fertig«, protestierte ich und dankte dem Himmel dafür, dass mein Stimmbruch schon lange vorbei war. »Umso besser«, sagte sie. »Komm mal her, du großer Junge.« Ich traute mich näher ran. Sie roch nach Babypuder und Hübsche-Mädchen-Shampoo. Sie beugte sich zu mir, mit schräg geneigtem Kopf, die Lippen leicht geöffnet. Ich dachte, Nein, niemals, das träume ich jetzt, nie wird geschehen, was ich mir zusammenfantasiere.
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