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Narben

Narben

Titel: Narben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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weit gehen würde, aber was wußte ich schon über sie?
    Jetzt war sie mir aus den Händen genommen. Sie war im System, drei Tage eingesperrt und länger, wenn die Psychiaterin einen Richter überzeugte, daß sie eine Gefahr für sich selbst darstellte.
    Eine Psychiaterin. Eine Frau. Vielleicht war das besser für sie. Ich jedenfalls hatte ihr nicht helfen können.
    Offenbar war sie zerbrechlicher, als ich gedacht hatte. War der Sommer als Prostituierte die Ursache gewesen oder nur ein Symptom? Ich fragte mich, ob alles wahr war, was sie mir erzählt hatte. Ihr Vater konnte genausogut ein Fernfahrer aus Bell Gardens sein, seine einzige Verbindung zur Literaturwelt ein Abonnement von Reader’s Digest.
    Wer hatte sie ins Krankenhaus gebracht? Wer hatte ihren Kopf aus dem Ofen gezogen?
    Ihre Augen öffneten sich halb. Sie versuchte zu blinzeln, doch es war noch zu anstrengend. Ich bewegte mich in ihr Blickfeld und sah, daß ihre Pupillen sich weiteten. Ich ergriff die Hand, die sie nach mir ausstreckte. Ihre Lippen bewegten sich, sie versuchte zu sprechen, doch es kam nicht mehr als ein wortloses Krächzen heraus.
    »Ist schon gut, Lucy.«
    Ihre Hand war kalt und schlaff.
    »Was ist passiert?« fragte sie heiser.
    »Sie sind im Krankenhaus, im Woodbridge Hospital. Was ist das letzte, woran Sie sich erinnern können?«
    Sie schaute mich verständnislos an. »Ich habe geschlafen.« Sie verzog das Gesicht - vor Schmerz, Scham oder beidem?
    - und stöhnte: »Oh, mein Kopf. Was ist denn passiert?« Sie zitterte; ihre Zähne klapperten. Ich legte noch eine Decke über sie. Sie sagte etwas. Ich konnte sie nicht verstehen und beugte mich hinunter.
    »Bin ich krank?«
    »Sie haben etwas sehr Schlimmes hinter sich.«
    »Was?«
    Tränen flossen ihr die Wangen hinunter und in ihren Mund. Die Angst verzerrte ihr Gesicht.
    »Bin ich krank?« fragte sie wieder.
    Ich nahm ihre Hand. »Man hat mir gesagt, Sie hätten versucht, sich umzubringen.«
    Sie riß die Augen auf. »Nein!« Es war nur ein Flüstern, eigentlich nur Lippenbewegung. »Nein!«
    Ich drückte ihre Hand und nickte.
    »Und wie?«
    »Mit Gas.«
    »Nein!«
    »Ich glaube Ihnen«, log ich, »entspannen Sie sich nur.«
    »Das hab ich nicht getan!«
    »Okay. Beruhigen Sie sich.«
    Sie keuchte, hustete rauh. Als es vorbei war, wiederholte sie:
    »Das hab ich nicht getan.« Ich nickte.
    »Wirklich nicht!«
    »Ich glaube Ihnen, Lucy.«
    »Kann ich nach Hause?«
    »Sie wollen Sie für eine Weile hierbehalten, zur Beobachtung.«
    Sie stützte sich auf die Arme und versuchte aufzustehen. Der Sauerstoffschlauch schoß heraus und schlängelte sich auf der Bettdecke wie eine wütende Kobra. Die Zeiger auf den Überwachungsgeräten tanzten. Ich legte meine Hände auf ihre Schultern, bettete sie hin und steckte den Schlauch zurück.
    »Bringen Sie mich nach Hause«, flehte sie.
    »Das kann ich nicht, Lucy.«
    »Warum kann ich nicht nach Hause?«
    »Weil die hier denken, Sie hätten einen Selbstmordversuch hinter sich. Sie sind zwangseingewiesen, für zweiundsiebzig Stunden. Das ist nicht lange. Sie behalten Sie hier und bieten Ihnen psychiatrische Hilfe an, und wenn Sie sich dann beruhigen, können Sie gehen.«
    »Nein!« Sie stöhnte und warf den Kopf hin und her.
    »So steht es im Gesetz, Lucy. Es ist zu Ihrem eigenen Schutz.«
    »Nein!«
    »Es tut mir leid, daß Sie das durchmachen müssen. Auch ich möchte, daß Sie so schnell wie möglich hier herauskommen. Deshalb müssen Sie kooperieren.«
    »Sind Sie… hier?«
    »Ich arbeite nicht hier, Lucy. Eine Psychiaterin, Dr. Embrey, wird Sie behandeln, aber ich werde zuerst mit ihr reden.«
    »Milo…«
    »Soll ich Milo erzählen, daß Sie hier sind?«
    »Sagen Sie ihm… jemand« - sie rang nach Luft, holte tief und pfeifend Atem - »jemand…« Ihre Herzfrequenz kletterte auf über hundert. Hundertzehn. Ich hielt mein Ohr vor ihren Mund, versuchte sie zu verstehen.
    »Was ist mit jemand?«
    »… will mich umbringen!«

9
    Sie fiel zurück und schlief ein. Es dauerte eine Minute, bis die Zeiger sich wieder beruhigten. Ich blieb noch eine Weile bei ihr, dann ging ich auf den Flur und machte mich auf die Suche nach einem Kaffeeautomaten. Ein Mann sprach mich an.
    »Entschuldigung, sind Sie ihr Arzt?«
    Er war ungefähr dreißig, gut gekleidet, untersetzt, mit rundem Gesicht, braunem Haar und braunen Augen.
    »Nein, ich bin ihr Psychologe, Dr. Delaware.«
    »Ah, gut.« Er streckte mir die Hand entgegen. »Ich bin Ken Lowell, Lucys Bruder.

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