Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Narben

Narben

Titel: Narben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
Vom Netzwerk:
das gesagt habe. Wie konnte ich so -«
    »Kommen Sie.« Ich führte sie zu ihrem Sessel zurück. Zuerst wollte sie sich setzen, doch dann grabschte sie nach ihrer Handtasche und rannte zur Tür. Ich war erst bei ihr, als sie sie schon geöffnet hatte. Die Seebrise blies ihr Haar durcheinander. Tränen liefen ihr übers Gesicht.
    »Bitte, kommen Sie wieder herein, Lucy.«
    Sie schüttelte heftig den Kopf. »Lassen Sie mich gehen. Ich halte es nicht mehr aus.«
    »Lassen Sie uns reden.«
    »Ich kann nicht. Nicht jetzt. Ich verspreche Ihnen, ich komme wieder. Bald.«
    »Lucy -«
    »Bitte, lassen Sie mich gehen. Ich muß jetzt allein sein, wirklich.«
    Ich schaute ihr nach, wie sie über die Brücke verschwand.

8
    Ich war noch im Bademantel, als am nächsten Morgen um zehn nach sieben das Telefon summte.
    »Dr. Delaware? Ich habe einen Dr. Shaper für Sie in der Leitung.«
    Der Name sagte mir nichts. »Stellen Sie durch.«
    »Guten Morgen. Ich bin Dr. Shapoor, Woodbridge Hospital. Wir haben letzte Nacht einen Selbstmordversuch hereinbekommen. Lucretia Lowell ist der Name. Sie ist endlich aufgewacht und sagt, Sie sei Ihre Patientin.«
    Das Herz pochte mir im Hals. »Wie geht es ihr?«
    »Stabil. Sie wird überleben.«
    »Wann wurde sie eingeliefert?«
    »Irgendwann in der Nacht. Sie sagt, sie hätte es zum erstenmal gemacht. Stimmt das?«
    »Soweit ich weiß, ja, aber wir hatten erst wenige Sitzungen. Wie hat sie es denn gemacht?«
    »Gas. Sie hat den Backofen angedreht und den Kopf hineingesteckt.«
    »Wer hat sie gefunden?«
    »Ein Mann hat sie gebracht. Ich bin eben erst gekommen und fand die Nachricht auf ihrer Karte, Sie anzurufen.«
    »Hat sie irgendwelche Drogen genommen oder Alkohol?«
    »Nach dem, was auf der Karte steht, sagt sie nein, aber das werden wir sehen, wenn der Laborbericht kommt. Hat sie denn mit Drogen zu tun?«
    »Nicht, daß ich wüßte, aber sie hat einiges durchgemacht in letzter Zeit. Ich würde gern herüberkommen und sie sehen. Geht das?«
    »Klar. Sie wird bestimmt noch bei uns sein, wenn Sie kommen.«
    Das Krankenhaus war ein dreistöckiger brauner Backsteinturm und erinnerte an einen riesigen Schokoladenriegel. Der Pförtner schaute kaum auf, als ich ihm meinen Namen gab; er betätigte den Türöffner und ließ mich hinein.
    Shapoor stand vor einer Tür mit der Aufschrift BEOBACH- TUNG 2 und studierte eine Patientenkarte. Er war ein hochgewachsener, eleganter Inder um die Dreißig, mit welligem schwarzem Haar, wäßrigen Augen und Nikotinatem. Auf seinem Namensschild las ich, daß er Assistenzarzt im zweiten Jahr war.
    »Ich möchte zu Lucy Lowell. Wie geht es ihr?«
    »Genau wie heute morgen. Wir haben sie zusammengeflickt.«
    »Hatte sie Wunden?«
    »Nein, nein, das meinte ich bildlich. Es geht ihr gut. Wir haben sie gerettet. Für diesmal jedenfalls.«
    »Ist der Laborbefund schon gekommen?«
    »Ja. Keine Narkotika festzustellen.«
    »Welche Nebenwirkungen hat das Gas?«
    »Zwei oder drei Tage lang böse Kopfschmerzen, allgemeine Schwäche, möglicherweise Gleichgewichtsstörungen, Verstopfung, Atemlosigkeit - es kommt ganz darauf an, wieviel sie aufgenommen hat. Wir haben sie jedenfalls gründlich durchgeblasen.«
    »War sie bei Bewußtsein, als sie gebracht wurde?«
    »Halb, aber sie nickt immer wieder ein - ganz typisch.«
    »Ist der Mann, der sie gebracht hat, noch hier?«
    »Das weiß ich nicht. Die Psychiaterin kann Ihnen sicher mehr sagen. Sie kommt später noch mal vorbei. Jedenfalls hält sie es für notwendig, daß wir sie hierbehalten, ob sie will oder nicht.«
    »Wie ist der Name der Psychiaterin?«
    »Dr. Embrey. Sie können Ihre Karte am Schalter hinterlassen und dort bitten, sie an sie weiterzugeben.« Er nahm sein Stethoskop vom Hals und ging zur nächsten Tür. Ich ging zu Lucy hinein.
    Ihre Augen waren geschlossen. Sie atmete durch den Mund, die Hände flach auf der Bettdecke. Ihr Haar hatte man mit einem Gummiband hochgebunden. Aus einer Plastikflasche tropfte eine klare Flüssigkeit in ihre Vene. Aus einem dünnen Schlauch strömte Sauerstoff in ihre Nase. Hinter dem Bett piepsten, blinkten und gurgelten eine Reihe von Überwachungsgeräten und zeigten an, was von ihrem Leben noch übrig war.
    Die Werte sahen gut aus. Der Blutdruck war etwas niedrig, das Gesicht verschwitzt, doch ihre Lippen waren trocken.
    Ich blickte auf sie hinab, spielte in Gedanken unsere Sitzungen durch und fragte mich, ob es Warnzeichen gegeben hatte: Nichts, was mich ahnen ließ, daß sie so

Weitere Kostenlose Bücher