Narben
Bildschirm und sind sehr entspannt. Sie sehen einen Kalender mit dem Datum von heute. Einen Terminkalender, in dem man die Seiten umklappen kann. Können Sie ihn sehen?«
Der rechte Finger hob sich.
»Gut. Es ist ein ganz besonderer Kalender. Jedes Blatt steht für ein Jahr, immer mit demselben Datum. Das Datum bleibt dasselbe, jedes Blatt ein Jahr. Das oberste Blatt ist dieses Jahr, heute. Darunter ist letztes Jahr, heute. Sehen Sie, wie ich umblättere.«
Ihre rechte Hand zuckte. Ihre Augen bewegten sich.
»Sehen Sie das Kalenderblatt? Heute, vor einem Jahr?« Rechter Finger.
»Ich blättere weiter zurück. - Welches Jahr ist das?« Ihre Lippen bewegten sich. »Zwei - vor zwei Jahren.«
»Richtig. Das Datum von heute, vor zwei Jahren. Bleiben wir dort für eine Minute. Atmen Sie tief und zählen Sie bis drei; bei drei können Sie sehen, wo Sie waren, heute vor zwei Jahren. Sie sehen sich auf dem Bildschirm, als ob Sie jemand anderen beobachten. Doch was immer auf dem Bildschirm geschieht, es braucht Sie nicht zu beunruhigen. Verstehen Sie? Gut: eins, zwei drei.«
Sie holte Luft, atmete aus und nickte zaghaft.
»Wo sind Sie, Lucy?«
»Arbeit.«
»Bei der Arbeit?«
Sie hob den rechten Zeigefinger.
»Wo bei der Arbeit?«
»Schreibtisch.«
»An Ihrem Schreibtisch. Gut. Erzählen Sie mir, was Sie tun an Ihrem Schreibtisch.«
Ihr Gesicht spannte sich an und lockerte sich langsam wieder.
»Fabrik… Simkins… Bücher«
»Sie gehen für Simkins die Bücher durch. Ist es viel Arbeit?« Rechter Finger.
»Eine große Buchhaltungssache. Wie sehen die Bücher aus?« Sie zögerte, runzelte die Stirn. »Schlampig.«
»Schlampig?« Rechter Finger.
»Aber das macht Ihnen nichts aus, weil Sie es nur beobachten. Sie sind nicht wirklich dort.«
Ihre Stirn glättete sich.
»Gut. Möchten Sie dort verweilen, bei der Arbeit?« Sie hob den linken Finger und lächelte.
»Nein?«
»Langweilig.«
»Gut, dann gehen wir zu einem anderen Jahr. Holen Sie tief Atem und zählen Sie bis drei, dann sehen Sie wieder unseren Kalender auf dem Bildschirm. Eins, zwei, drei.«
So führte ich sie Schritt für Schritt in die Vergangenheit zurück. Nur den Sommer in Boston ließ ich aus. Sie erinnerte sich, als sie sechzehn war, wie sie im Schlafsaal einer Sommerschule saß und mit einer Reinmachefrau Romme spielte. Kein anderes Kind war zu sehen. Mit zwölf war sie ähnlich isoliert, allein in einem Zimmer mit Butzenfenstern, einem schmalen Bett und einem Buch, Jane Eyre . Je älter die Erinnerungen wurden, desto lockerer wurde ihre Haltung. Ihre Stimme wurde höher, die Sprache zaghafter, leicht stotternd.
Im achten Sommer sah sie sich beim Reiten, allein mit einer Lehrerin, wieder in einem Internat, und wieder konnte sie sich an keine anderen Kinder erinnern.
Kein Wort über Peter oder andere Familienmitglieder.
Die Einsamkeit, in der sie aufgewachsen war, wurde schmerzlich spürbar. Es machte mich traurig, und ich mußte aufpassen, daß diese Trauer nicht in meiner Stimme durchkam. Sie hing in ihrem Sessel, wie Kinder es gern tun, wenn sie fernsehen, fast auf dem Rücken liegend, die Füße über Kreuz, die Knie leicht auseinander, ein Finger auf den Lippen. Doch sie war vollkommen ruhig.
Ich änderte das Datum auf dem Kalender zum vierzehnten August und brachte sie zu dem Sommer, als sie sechs war. Ihre Augen rollten wild, und ihre Stimme wurde weinerlich, als sie mir erzählte, wie sie ihre Lieblingspuppe verlor.
Dann atmete sie tief und friedlich.
»So, Lucy, jetzt blättern wir noch zwei Seiten zurück. Du bist vier.«
Ihr Atem stockte. Sie ballte die Fäuste und rieb sich die Augen.
»Ganz entspannt, Lucy, ganz ruhig. Es ist nur ein Bildschirm, nichts kann dir weh tun.«
Die Hände fielen in ihren Schoß zurück. Die Knie trennten sich ein wenig mehr, die Füße kamen zusammen, Sohle an Sohle.
»Du bist vier. Was siehst du?« Schweigen.
»Lucy?«
»Haus.« Die Stimme war leise, sehr hoch, fast piepsig.
»Du siehst ein Haus auf dem Bildschirm?«
»Mhm.«
»Ein hübsches Haus?«
»Haus.«
»Gut. Möchtest du das Haus weiter anschauen?« Linker Finger.
»Möchtest du etwas anderes sehen?« Sie schien verwirrt. »Dunkel.«
»Draußen ist es dunkel.«
»Ich geh raus.«
»Du möchtest sehen, wie du hinausgehst?«
»Lichter… weit weg… ich geh raus.«
»Es ist dunkel, und du willst zu den Lichtern.«
»Mhm.«
»Hast du geschlafen?«
»Mhm.«
»Du kannst auch die Finger zum Antworten nehmen.« Der
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