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Narcopolis

Narcopolis

Titel: Narcopolis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeet Thayil
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Uneingeweihten stets unsere untergründigen Verbindungen und verfemten Fähigkeiten aufzeigen. Damals hielt ich Xavier noch für einen Uneingeweihten.
    »Und jetzt ist er höchstpersönlich hier«, fuhr ich fort. »Ist das nicht unglaublich?«
    In diesem Moment wimmerte Bengali in seinem Traum und sagte einen Satz, den niemand verstand. Wir hörten nur das letzte Wort:
kaun
?
    Dimple schüttelte kurz den Kopf. Daran ist nichts unglaublich, sagte sie. Mir käme das nur so vor, weil ich Englisch spräche, weil ich Bücher läse und weil meine Eltern für meine Schule und meinen Unterhalt bezahlt hatten. Für mich sei alles überraschend, die Welt sei voller Wunder, zufällige, idiotische Fügungen seien für mich unfassbar, da sie sich meinem Glück zu verdanken schienen. Für Menschen wie sie aber, für die Armen, sei Geld und die mysteriöse Weise, in der es funktionierte, das einzig Unglaubliche auf der ganzen Welt.
    •••
    Sie hat recht, sagte Xavier. Nur die Reichen können sich Überraschungen oder Ironie leisten. Sie sehnen sich nach Bedeutung. Werden sie mit der Ewigkeit konfrontiert, ist das Erste, und ebenso übrigens auch das Letzte, was sie fragen: Sorry, aber was hat das zu bedeuten? Die Armen stellen keine Fragen, zumindest keine unwichtigen. Das können sie sich nicht leisten. Sie leisten sich nur Gelächter und Gespenster. Und dann wären da noch die Süchtigen, die Hungersüchtigen und die Wutsüchtigen, die Armutsüchtigen und die Machtsüchtigen sowie die reinen Süchtigen, die nach keiner bestimmten Droge süchtig sind, nur nach dem Vergessen und der Zärtlichkeit, die Drogen in uns wecken. Ein Süchtiger ist, wenn ich das mal so sagen darf, eine Art Heiliger, denn was ist ein Heiliger anderes als jemand, der sich willentlich, ich betone willentlich, vom Treiben der Welt und ihren Geschäften absetzt? Der Heilige redet mit den Blumen, mit einer Narzisse zum Beispiel, und sieht darin das Gelb. Er nimmt ihren Duft mit den Augen wahr. Ja, denkt er, du bist meine Muse, dein Starrsinn lässt mich hoffen, ein Tropfen Wasser, ein Sonnenstrahl, und du öffnest dich mit prachtvoller Blüte. Er erfreut sich an den Blumen, die Bäume aber betet er an. Er möchte der Sklave des Banjanbaumes sein. Er möchte ein Verhältnis zur Zeit, wie es die Bäume haben, auf dass eine Dekade für ihn nichts weiter bedeute als ein wenig mehr Leibesumfang. Er verbündet sich mit den Vögeln und lässt sich die Neuigkeiten des Tages von dem Geräusch überbringen, das der Wind im Laub hervorruft. Ist er hungrig, bleibt er im Wald stehen, bis eine Mango fällt. Sein Ehrgeiz ist das Gegenteil von Ehrgeiz. Wie alle Süchtigen aber will er vor allem die Zeit auslöschen. Er will sterben oder doch wenigstens nicht leben.
    Dimple sagte: »Ich brauche einen Übersetzer, um Sie verstehen zu können.«
    »Ich glaube, ich auch«, erwiderte Xavier. »Ich glaube, ich verliere schon wieder den Verstand.«
    »Heilige und Süchtige«, sagte ich. »Das gefällt mir.«
    Und dann stellte Dimple jene Frage, die ich viele Jahre lang nicht beantworten konnte. Sie fragte, warum ich, der ich lesen und schreiben konnte und der ich eine Familie besaß, die sich so sehr um mich kümmerte, dass sie für meine Ausbildung aufgekommen war, der machen konnte, wonach ihm der Sinn stand, der überallhin reisen und jedermann sein durfte, warum ich also ein Süchtiger sei. Das verstünde sie nicht.
    Damals verstand ich es auch nicht. Ich kannte meine eigenen Zwänge und Triebe nicht gut genug, um ihr antworten zu können. Stattdessen öffnete ich die aus dem Lager gestohlene Packung mit pharmazeutischem Morphium und setzte mir einen kleinen Schuss. Xavier gönnte sich auch einen.
    •••
    Als sie an den Schaft pochte, nahm er die Pfeife und hielt sie gelassen mit zwei, drei Fingern, wie ein Mann ein Teleskop hält. Später sagte sie, sie hätte gespürt, wie seine Blicke über ihren Körper wanderten und an ihrer Fotze hängenblieben, während er mit so lautem Schmatzen an der Pfeife sog, dass sie meinte, er sauge an ihrem amputierten Penis, sauge auf eine Art, die ihr das Leben nähme, wenn sie sich nicht dagegen wehrte. Kurze Zeit darauf hörte sie das Geräusch von Wasser, von fließendem Wasser, als wäre irgendwo ein Hahn aufgedreht, nein, nicht direkt das Geräusch von fließendem Wasser, eher von einer Stimme, die dieses Geräusch imitierte, eine leise, desinteressierte, doch unablässig murmelnde Stimme, und sie begriff, dass es seine Stimme war

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