Narcopolis
wäre das für ein Fehler gewesen. Und dann sagte Wei: Ich bin hier, um Sie zu warnen. Unsere Abteilung und ich persönlich, wir sind in Wandzeitungen angegriffen worden. Wenn man aber mich angreift, sind Sie der Nächste. Es gibt nur weniges, dessen man sich in diesen Zeiten sicher sein kann, und dazu gehören: Blutrausch, Gruppenüberfälle auf jene, die allein oder isoliert sind, Hundemeuten, die wild durch die Straßen ziehen, und schließlich das Ende. So ist unsere Realität. Jedem kann jederzeit alles zustoßen.
8 Nach Bombay
Er beantragte einen Jeep. Die offizielle Begründung war von Anfang bis Ende gelogen, und er rechnete fest damit, dass man dahinterkam, ihn verhaftete und bestrafte, aber nichts geschah, und der Antrag ging durch. Er fand eine alte Asienkarte. Namen ändern sich, aber die Geographie bleibt gleich, dachte er, lud die Koffer in den Jeep, fuhr nach Süden und warf keinen einzigen Blick zurück. Er fuhr weite Strecken, fuhr, so lange er konnte, ehe ihn Hunger oder Müdigkeit zum Halten zwangen. Er fuhr bei Nacht und schlief in der Uniform. Sofern sich die Notwendigkeit ergab, behauptete er, im Sonderauftrag seiner Abteilung unterwegs zu sein. Er legte Halt in Xian, Chengdu und Kunming ein und fand heraus, dass die Karte zu alt war, um genau sein zu können. Er verbrannte sie und kaufte sich eine neue. Kaum hatte er China hinter sich gelassen, wurde das Reisen einfacher. Er musste sich nicht mehr darum sorgen, dass man ihn gefangen nehmen könnte: Burma war primitiv, Indien ein Chaos, niemand verlangte Papiere oder Erklärungen. Er lebte in Dhaka, Kalkutta, Cuttack und Amritsar. Er lebte in Delhi. An vielen Orten traf er Menschen, die ihm ähnlich sahen, Inder aus den nordöstlichen Provinzen. Er wohnte in Städten und Dörfern, deren Namen er nie zuvor gehört hatte, wohnte in Herbergen, Gasthäusern oder baufälligen Unterkünften. Er lernte, wie ein Inder zu fahren. Er trennte sich vom Jeep, kaufte einen Ambassador und sagte sich, er wolle immer weiterfahren, bis er es irgendwann leid sei, aber er wurde es nie leid. Warum also hatte er sich dann für Bombay entschieden und nicht für Delhi oder Kalkutta? Die Wahrheit lautete: Er hatte nicht entschieden. Als er in die Stadt kam, hatte er nicht bleiben wollen: Es war lediglich das letzte einer Reihe zufälliger Ereignisse, die von der Flucht aus der Heimat in Gang gesetzt worden waren. In den ersten Monaten hatte er es sich angewöhnt, lange Spaziergänge zu unternehmen, damals, in dieser Zeit des Danach, des Misstrauens, in der die Gefahren zwar vorüber, aber noch lebhaft in der Erinnerung waren. Erst als er sein kleines Zimmer verließ und am Wasser spazieren ging, fand er zur Ruhe. Er entdeckte das Meer durch Zufall, damals, in der ersten Woche, ein Erkundungsgang, der in der Nähe der Grant Road begann und am Nariman Point endete. Er ging drei Stunden spazieren und hatte das Wasser in dieser Zeit fast immer im Blick, zumindest war es nie weit entfernt. Er begann, das Meer als Geschenk anzusehen, war es doch stets nahe, wo man sich auch befand. Es war das Einzige an Bombay, das ihn nicht anwiderte.
•••
»Mein Vater war ein wichtiger Mann und ich auch.«
»Ich weiß, das hast du mir schon erzählt. Du warst in der Armee, und du warst ein wichtiger Mann.«
»War ich, damals.«
Sie sagte: Du solltest dich ausruhen. Reg dich nicht über diese Dinge auf.
Er schüttelte den Kopf. Er wollte, dass sie ihn verstand, und zeigte auf den Koffer mit der Uniform, den Ausweispapieren und Fotos, den bezahlten und unbezahlten Strom- und Wasserrechnungen. Er sagte: Du. Er zeigte auf die Pfeifen, zeigte zweimal hin; die Hand wanderte langsam von Pritsche zu Pritsche. Er sagte: Jetzt ich bin nicht wichtig. Bin nur alter Mann mit Krankheit, kann dir nicht viel geben, bloß die Pfeifen. Ich will, dass du sie bekommst. Sind das einzig Wertvolle, das ich besitze: deine Mitgift. Er nickte ihr zu.
»Ach, Lee, ich möchte, dass du noch ganz lange lebst.«
Und Lee gab einen leisen Laut von sich. In den Jahren nach seinem Tod würde sie sich daran erinnern, sooft sie an ihn dachte, an diesen unwillkürlichen Laut, der tief aus seinen Lungen aufstieg. Er besagte deutlicher als jedes Wort, was er zu sagen versuchte, dass Sterben demütigend und dass es doppelt demütigend sei, in einem fremden Land zu sterben. Ihr fiel die Lüge ein, die sie ihm erzählt hatte. Als man 1998 , also zweiundzwanzig Jahre später, bei ihr dieselbe Krankheit feststellte, kam
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