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Narcopolis

Narcopolis

Titel: Narcopolis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeet Thayil
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Hungersnöte, eine erstaunliche Wirtschaftsleistung, das Ende von allem. Wir glauben, Peking veranstaltet mit uns eine Art soziales Experiment. Man will sehen, wie viel Bestrafung eine Stadt verträgt, ehe sie aufgibt. Es wurde eine interessante Frage oder eine ganze Reihe interessanter Fragen gestellt, das muss ich sagen. Zum Beispiel: Wie viel Chaos verträgt das menschliche System? Welchen Zweck hat der Wahnsinn? Gibt es Intelligenz in der Negativität? Wie weit kann Destruktion gehen, ehe sie aufhört, kreativ zu sein? Wie nützlich ist der Zufall? Kann sich die individuelle Phantasie den letzten Strand vorstellen, den letzten Vogelsang, den letzten Sonnenuntergang am letzten Abendhimmel? Die Einwohner Wuhans haben über all diese Fragen nachgedacht; wir haben sie bedacht und darüber detailliert diskutiert. Wir haben sie auch beantwortet, wenn auch allein zu unserer eigenen Zufriedenheit. Nur eine einzige Frage ist geblieben, die wir nicht beantworten konnten. Wissen Sie, wie sie lautet?
    Lee dachte: Warum lebt ihr immer noch hier? Dann aber schüttelte er den Kopf. Nein, sagte er.
    Tung sagte: »Was wollen Sie hier?«
    Daraufhin blickten ihn die drei Männer an, als wäre er gerade aus dem Nichts aufgetaucht.
    »Ich wurde von der Partei geschickt, um mir ein Bild von dem zu machen, was in Wuhan geschieht«, antwortete Lee. »Man erwartet einen Bericht, und weiter reicht meine Verantwortung nicht.«
    Tung schüttelte den Kopf, noch ehe Lee ausgeredet hatte. »Nein«, sagte er, »nein, nein, nein.«
    Da beschloss Lee, eine Bemerkung zu machen über die Millionen Gegen Mao Zedongs Gedanken Kämpfenden Revolutionären Arbeiterheldentruppen Wuhans, eine Koalition, von der man wusste, dass der General sie unterstützte, wenn auch nicht erklärtermaßen. Die Arbeiterheldentruppe war größer als ihr älterer Rivale, das Arbeiterkampfzentrum der Proletarier Wuhans Gegen Mao Zedongs Gedanken, das die Unterstützung Pekings besaß. Lee sagte, er glaube, die Arbeiterheldentruppe sei die Ursache für die Aufstände und für das Chaos auf den Straßen.
    Tung gab ein Geräusch von sich, als spuckte er aus. »Sie haben ja keine Ahnung«, sagte er. »Das Arbeiterkampfzentrum ist für die Unruhen in Wuhan verantwortlich.«
    Lee nickte bedächtig. Dann sagte er: »In Peking wird laut überlegt, die Arbeiterheldentruppe aufzulösen.«
    Da sprang der General auf und wies Lee an, sich gleichfalls zu erheben. »Unsere Besprechung ist zu Ende«, sagte er. Das waren seine ersten Worte in Lees Anwesenheit, und sie dienten Tung als eine Art Signal, warf er doch seine Zigarette zu Boden und brüllte einen Slogan gegen das Arbeiterkampfzentrum. Lee verstand kaum, was er schrie, da Tung zu wütend war, um sich verständlich auszudrücken. Er marschierte durchs Zimmer und blieb vor Lee stehen.
    »Ich bin bereit, mein Leben zu opfern«, sagte Tung. »Wir sind Soldaten. Dafür wurden wir ausgebildet, für die Selbstaufopferung. Sagen Sie denen das.« Dann marschierte er hinaus und ließ die Tür hinter sich zuknallen.

7 Zweimal entführt
    Als Lee in sein Hotel zurückkehrte und ein Gespräch mit Pang Mei anmeldete, war es schon lange nach Mitternacht. Er ließ das Telefon in der Herberge des Ingenieurscolleges klingeln, dann hörte er eine Sirene und Leute, die unten im Hof krakeelten. Wei?, fragte die Vermittlung in Peking. Der Lärm im Hof nahm zu, und über Lautsprecher wurden Ansagen gemacht. Lee legte auf und trat ans Fenster. Die Feuerwehr und ein LKW fuhren durchs Hoteltor, ihm folgten ein Lautsprecherwagen und Männer mit Gewehren, Äxten und selbstgemachten Speeren. Er ging zur Tür, verschloss sie und griff erneut zum Telefon. Er redete mit der Anmeldung im Kommissariat, als die Tür aufgebrochen und er zu Boden geschlagen wurde. Er stand auf, und ein Mann, der ihm irgendwie vertraut vorkam, versetzte ihm einen derart harten Schlag seitlich an den Kopf, dass ihm die Brille vom Gesicht und quer durchs Zimmer flog, um irgendwo auf dem Teppich zu landen. Ihm dröhnten die Ohren; irgendwer boxte ihm in den Magen, jemand anderes trat ihm die Beine weg. Lee fiel auf den Rücken. Auf seinem Hemd waren jetzt Blutflecken; die Rippen fühlten sich gebrochen an. Man zerrte ihn hoch und band ihm die Hände auf den Rücken. Dann wurde er aus dem Gebäude zu einem der Lastwagen geführt. In der Lobby herrschte ein Höllenlärm. Die Hotelwagen hatte man umgekippt und ausgeweidet; im Hof brannte ein Baum. Das Personal stand im Säulengang. Als man

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