Narcopolis
ihr diese Lüge wieder in den Sinn. Ein Mann, der nicht an seinen Geburtsort zurückkehrt, ist wie ein Mann, hatte Lee erzählt, der seinen besten Anzug anzieht, um dann im Dunkeln zu sitzen. Selbst im hohen Alter hatte er immer nach China zurückkehren wollen, um dort zu sterben und an der Seite seiner Vorfahren beerdigt zu werden. Versprich mir, sagte er, dass du mich in China bestattest. Versprich es mir, wie lange es auch immer dauern mag. Sie wollte ihn beruhigen und sagte: Keine Sorge, Lee, ich versprech’s. Später, als er schon lang nicht mehr war, erinnerte sie sich mit erschreckender Deutlichkeit an all dies, vor allem an seine letzten Tage und an die Anweisungen, die er für sie hinterlassen hatte. Sie sollte seine Asche in die Vase schütten, die sich in seinem Koffer befand. Verbrennen geht schneller als beerdigen, sagte er, und Asche lässt sich leichter aufbewahren, leichter transportieren. Von diesen Instruktionen einmal abgesehen sagte er dann kaum noch ein Wort und aß auch nichts mehr; er verlangte nur sein Opium und wollte unbedingt sterben.
•••
An einem trocknen Morgen im April brachte sie die Asche im Taxi zum chinesischen Friedhof in Sewri. Der Beifahrersitz war mit Blumen geschmückt, und Dimple saß hinten mit Ah Fong, Mr Lees altem Freund und Kunden, dem sie beim Einsteigen helfen musste.
»Er hat immer gesagt, dass er stirbt als Erster«, sagte Ah Fong. »Und ich habe immer gesagt: Wart’s ab, wirst du sehen. Ich sterbe zuerst.«
Alle Menschen sterben, dachte Dimple. Verliert man die Familie, ist das wie sterben, also bin ich schon zweimal gestorben. Im Chinaladen hatte man ihr einen schwarzen Knopf gezeigt, den sie sich an den Sari nähen konnte. Der Verkäufer sagte, auf dem chinesischen Festland sei dies die neuste Mode. Statt eines Armbandes trage man einen Knopf, einen Seidenknopf, sehr schick. Sie wolle ein Armband, erwiderte Dimple, und sie trug es über ihrer Bluse, einer altmodischen Saribluse aus ellbogenlanger roter Baumwolle, die Mr Lee gemocht hatte. Sie wählte ein gerahmtes Bild von Mr Lee in Uniform aus, stellte es in den Schrein und sprenkelte Rotwein auf die Erde. Es gab einen Teller mit gebratenem Hähnchenfilet. Es gab Fisch und süße Eierkuchen. Sie verbrannte bündelweise Glücksgeld in roten Packungen, die das Symbol doppelter Glückseligkeit trugen. Seine Kleider waren noch gut, und sie brachte es nicht über sich, sie zu verbrennen, seine Uniform, die seidengefütterten Jacken, die weißen Tuniken und schwarzen Pyjamas, die schwarzen Stoffschuhe, den Stock mit dem Hundekopf. Sie legte seine Sachen ins Regal und vergaß sie. Eine Woche nach der Beerdigung wartete eines Morgens in aller Frühe Ah Fong vor der Khana. Er war schrecklich aufgeregt und begann zu reden, noch ehe sie die Tür aufgeschlossen hatte. Es war seltsam, ihn bei Tageslicht draußen auf der Straße zu sehen und zu hören, was er zu sagen hatte.
»Ich hatte Traum. Ah Lee stand vor mir, gezittert in der Kälte, nackt wie an Tag von Geburt. Er sagte: Ich nichts anzuziehen. Gib mir dein Hemd. Ich wachte auf, ich schrie, solche Angst ich gehabt. Warum verbrennst du seine Kleider nicht? Das ist Botschaft! Er schickt dir Botschaft von jenseits von Grab.«
Das erschreckte sie. Also sammelte sie Mr Lees Sachen ein und fuhr mit dem Taxi zum Friedhof. Die Baumwollkleider verbrannten schnell, nur die Schuhe warfen Blasen, und von den Sohlen stieg schwarzer Rauch auf. Dimple bat die Friedhofswärter um Hilfe. Gemeinsam schichteten sie Mr Lees Sachen in einer Grube zu einem Scheiterhaufen auf und zündeten ihn an. Es dauerte über eine Stunde, bis das Feuer alles zu Asche verbrannt hatte, und Dimple wartete, allein auf einer Bank, wartete, bis sie spürte, wie sein Geist aufstieg. Oder war es ihr eigener Geist, der sich wie ein Ballon in den Himmel erhob? Sie hatte getan, was er gewollt hatte, hatte seine Anweisungen bis auf eine Ausnahme befolgt: Sie nahm seine Asche nicht mit nach Hause und sie suchte keinen Weg, sie nach China zu bringen. Dimple ließ seine Überreste in Sewri. Jahre später sollte sich eine Möglichkeit ergeben, diesen Fehler zu korrigieren, aber da war sie dazu nicht mehr in der Lage. Und da hatte sie auch bereits verstanden, dass sie nicht ganz falschgelegen hatte, als sie spürte, wie sein Geist den Friedhof verließ und in den Himmel aufstieg. Sie hatte sich nur in der Richtung geirrt, die Mr Lee einschlug; auch in dem Element, in dem er seine Ruhe fand. Er fuhr
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