Narcopolis
und Dung. Er hörte Vögel und fragte sich, warum sie mitten in der Nacht sangen. Waren sie so verwirrt wie er von der bis dato ungekannten Elastizität der Zeit? Die neuen Entführer fuhren aus Wuhan hinaus und hielten auf einem kurvigen Sandweg an, der hinauf in die Berge führte. Er wurde nicht wieder geschlagen. Man gab ihm zu essen und neue Kleider, verband ihm die Rippen. Dann fuhr man weiter und hielt an einem Flugplatz, wo er in eine Maschine nach Peking gesetzt wurde.
•••
Im Krankenhaus machte er mehrere Anrufe und fand heraus, dass Pang Mei nicht mehr im Kommissariat arbeitete; auch die Ingenieursherberge führte sie nicht länger als Bewohnerin. Er erledigte noch ein paar Anrufe und erfuhr, dass ein ihm bekannter Lehrer, einer der alten Freunde seines Vaters, Selbstmord begangen hatte. Andere Leute waren einfach verschwunden; man hielt sie für tot. Er war noch wegen seiner Verletzungen in Behandlung, als Wei Kuo-ching ihn besuchte.
»Die Mörder sind kaum aus dem Pubertätsalter raus, fanatische Jugendliche, sogenannte Radikale, die in wilden Packs jagen«, sagte der gewöhnlich so adrett gekleidete Wei, der ein wenig mitgenommen wirkte. Roch er nicht auch nach Wein? »Jedem kann jederzeit alles zustoßen. Haben Sie gehört, was mit Kommissar Hu passiert ist?«
Eines Tages sei eine Wandzeitung aufgetaucht, erzählte Wei, und habe Hu als ›Sohn eines Landeigners‹ denunziert, als ›räudigen Köter‹ und ›Narbenverkäufer‹. Mit solchen Namen wirft man heutzutage schnell um sich, vielleicht hätte er sie also lieber nicht weiter beachten sollen. Doch die Wandzeitung behauptete außerdem, Hu habe abartigen Sex mit dekadenten Frauen. Sie kennen Hu, oder auch nicht, jedenfalls gehört er nicht zu der Sorte, die sich Beschimpfungen widerstandslos gefallen lässt. Er berief ein Treffen ein und sagte, die Ankläger seien reaktionär und rechtsgerichtet, eine Gefahr für die Partei. Er sagte, sie seien Feiglinge und versteckten sich hinter der Anonymität einer Wandzeitung, und er forderte sie auf, sich zu stellen. Noch am selben Abend wurden neue Wandzeitungen aufgehängt, die Hu der Konterrevolution bezichtigten. Die Beschuldigungen und Gegenbeschuldigungen erregten einige Aufmerksamkeit, weshalb die Partei eine Arbeitsgruppe entsandte, um die Vorwürfe prüfen zu lassen. Die Arbeitsgruppe untersagte es den Studenten, weitere Zeitungen aufzuhängen, ermahnte aber auch Hu und riet ihm, sich zu einigen Vergehen zu bekennen. Statt so den Frieden wiederherzustellen, bewirkten die Vorschläge der Arbeitsgruppe das Gegenteil. Die Studenten widersetzten sich dem Verbot und verteilten Wandzeitungen über die ganze Stadt. Sie mobilisierten Studentengruppen in anderen Orten und entsandten Sprecher in die höchsten Parteigremien. Die Antwort dürfte wohlwollend ausgefallen sei, da die Attacken an Intensität zunahmen. Der nächste Schwung Wandzeitungen verriet Einzelheiten über Hus angebliche Perversionen: Prostituierte, Gruppensex, Sodomie, aber auch Homosexualität. Und das war der Moment, in dem Hu einen schrecklichen Fehler beging. Er stritt alle Vorwürfe ab und sagte dann: Selbst wenn es wahr wäre, was machte das schon? Auch der Vorsitzende ist kein Eunuch, wenn es um Sex geht. Sie holten ihn am nächsten Tag, malten sein Gesicht schwarz an und stellten ihn auf den Straßen zur Schau. Man steckte ihn in einen Käfig und hängte an die Gitterstäbe das Schild: Zoo. Er durfte nicht schlafen, sich nicht waschen und nicht reden. Es dauerte zwei Wochen, bis er einräumte, dass er den Ruf des Vorsitzenden geschädigt hatte und sexueller wie sonstiger Verbrechen schuldig war. Pang Mei gestand, er habe sie missbraucht und mit fremdländischen Perversionen bekannt gemacht. Man zwang die eigenen Töchter, ihren Vater zu verleugnen. Er wird jetzt gesäubert, sagte Wei. Lee aber fiel nur eine einzige Frage ein: Was war mit Pang Mei passiert?
•••
Sie fiel in Ungnade, sagte Wei. Die Studenten haben sich abwechselnd und in Gruppen über sie hergemacht. Man hat sie gedemütigt, verhöhnt, auf den Straßen beschimpft, hat ihrer Familie, ihren Kollegen ins Gewissen geredet und zu jeder Tages- und Nachtzeit ihr Zimmer gestürmt. Als man nach einigen Wochen wusste, dass sie kurz vor dem Zusammenbruch stand, wurden Plakate aufgehängt, die ihr den Selbstmord untersagten. Es heißt, man hat sie zur Umerziehung in ein Arbeitslager gesteckt. Ist doch prima, dass Sie Pang Mei nicht geheiratet haben, oder? Was
Weitere Kostenlose Bücher