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Narcopolis

Narcopolis

Titel: Narcopolis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeet Thayil
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Lee die Stufen hinabführte, sah er einen Mann zum Tor laufen. Einige Leute fielen mit bloßen Händen und Gewehrkolben über ihn her und schlugen ihn zu Boden. Der Mann schrie: Helft mir, Kameraden, helft mir. Wen meinte er? Wie seltsam, dachte Lee, dass die Angst uns gerade jene um Hilfe bitten lässt, die doch die Verursacher unserer Qualen sind. Ein Mann mit einem Beil trat vor und hackte dem Mann mit präzisen, sparsamen Bewegungen die Arme ab. Der Mann zuckte und zitterte, als er auf seine abgetrennten Arme blickte, auf die Blutfäden, die ihn noch damit verbanden. Seine Lippen bewegten sich, doch waren die Worte unverständlich, die er sprach, falls er denn überhaupt etwas sagte. Blut sammelte sich um seine Hüften. Er setzte sich auf und übergab sich; die Menge trat angewidert zurück. Dann hieb ihm der Mann mit dem Beil den Kopf ab, was ihm allerdings nicht sofort gelang, da das Beil jetzt stumpf war und die Halsknochen nur noch mit Mühe durchschlug.
    Lee war der einzige Gefangene, doch begleiteten ihn so viele Männer, dass es sich im LKW eng und stickig anfühlte. Seine Kleider waren von Blut und Schweiß durchtränkt, und er fühlte sich wie gelähmt ohne Brille, konnte die Gesichter seiner Entführer aber deutlich erkennen. Er fragte sich, wie spät es wohl war, dachte dann an Pang Meis komplizierte Jungfräulichkeit, und aus irgendeinem Grund hallten die liedähnlichen Worte in seinem Kopf wider, die er vorhin gehört hatte – oder war das gestern gewesen? – Worte wie ein Gebet:
Zeit ist eine Bombe, die Welt steht in Flammen
. Der Rest wollte ihm nicht mehr einfallen, obwohl er die Stimme der Frau deutlich hörte, wie sie den Text aufsagte. Die Männer im LKW redeten, als wäre er nicht unter ihnen oder schon tot. Sie unterhielten sich über Grillfleisch und selbstgebrannten Reisschnaps, darüber, wie lange man im Sommer im Fluss schwimmen konnte, ehe man vom Schlick zu schwer wurde (nicht länger als eine Stunde), über die Vorzüge von Kartenspielen im Vergleich zu Mah-Jongg (weniger vertrödelte Zeit, größere Chance auf schnelles Geld), über die Wirksamkeit von Hirschpenis als Aphrodisiakum (exzellent) und über Lees Schicksal, ob man ihn öffentlich hinrichten oder sich seiner mit möglichst wenig Aufhebens entledigen würde (der allgemeine Konsens: öffentlich, mit Genickschuss). Kaolu, sagte einer der Männer, und erst da erkannte Lee den Mann, der in General Los Büro gewesen war. Bei seinen Entführern handelte es sich um Armeeangehörige. Sie trugen Armbinden, die sie als Mitglieder der Arbeiterheldentruppe auswiesen, dabei waren sie Soldaten, nein, sie waren Meuterer. Sie sind es, die schon tot sind, dachte Lee.
    •••
    Man brachte ihn in ein Gebäude, offenbar das Hauptquartier der Garnison, führte ihn in eine Zelle und ließ ihn allein. Stunden später kamen zwei Männer, zogen ihn aus und schlugen ihn, sehr methodisch, bis er in Ohnmacht fiel. Vom Schmerz wurde er wieder wach, und ihm war klar, dass er bewusstlos gewesen war, vielleicht nur wenige Minuten, vielleicht einige Stunden, das ließ sich schwer sagen, da die Zeit aus den Fugen geraten schien. Jede Stelle seines Körpers pochte und brannte. Schmerz verlangsamte die Zeit; ein einziger Augenblick wurde zu etwas unfassbar Komplexem, und er brauchte alle Kraft, um ihn zu überstehen. Der Puls hämmerte ihm in den Ohren; zwischen den Herzschlägen vergingen Stunden. Er schlief ein, wachte auf, schlief wieder ein und kam sich wie ein Besucher in einem unbekannten Sonnensystem vor, in dem die Zeit in wahllosen Intervallen mal schneller, mal langsamer verging. Man gab ihm Congee, und er schlief. Dann kamen die Männer zurück und verprügelten ihn erneut. So wusste er, dass ein Tag vergangen war, zwei Tage, drei Tage, vier Tage. Es wurde zu einer Art Routine; und er begann, sich auf den Schmerz einzustellen, sich auf das Schlimmste vorzubereiten, als die alten Entführer plötzlich abgelöst wurden. Die Tür zu seiner Zelle ging auf, und jemand, den er zuvor nie gesehen hatte, sagte: Ist er das? Ja, erwiderte Tung, dessen Hände gefesselt waren. Die neuen Entführer setzten Lee in einen Jeep und brachen zu einer langen Fahrt auf. Es war Nacht; die Sterne standen tief am Himmel. Er sah mehr Sterne, als er je für möglich gehalten hätte, so viele Sterne, dass es ein Leichtes war, sich unter ihnen zu verlieren, er musste dazu nur den Kopf in den Nacken sinken lassen und hinauf ins Unendliche schauen. Es roch nach Eukalyptus

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