Narcopolis
nicht mehr gut aussehe, will ich auch nicht mehr leben. Ich will nicht wie die Tai werden, deren einzige Freude im Leben das Geld ist. Dimple war die Chela der Tai, ihre Stellvertreterin. Wurde sie alt und arbeitsunfähig, sollte sie das Geschäft übernehmen und die Randis beaufsichtigen. Den ganzen Tag lang würde sie sich nur noch ums Geld kümmern. Ein anderes Leben gäbe es dann nicht mehr für sie. Das war etwas Unvermeidliches, das korrigiert werden musste, folglich korrigierte sie ihr Leben. Und sie bat Rashid zu warten, während sie ihre Sachen nach und nach abholte, ein Umzug auf Raten. Ihren Lohn mitzunehmen kam nicht in Frage. Die Tai würde behaupten, Dimple schulde ihr Geld für Essen und Miete, außerdem sei es doch ein fairer Tausch: Sie zahlte (ihren Lohn) für ihr Vergnügen (ihre Freiheit). Spielarten dieser Transaktion fanden auf der Straße jeden Tag viele tausend Mal statt.
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Sie verriet nur einem Girak, dass sie aufhörte, einem Taschendieb, der stets an ihrem Platz rauchte. Er rauchte und redete, leise, damit die anderen Kunden ihn nicht hören konnten. Rashid riss bereits seine Witze, nannte ihn ihren neuen Freund. Dann kam der Taschendieb zu ihr ins Bordell. Er verkaufte Kokain und Whisky an einen der Lalas. Er war großgewachsen und dürr, die dünnen Beine und knochigen Knie ein Gegensatz zum dicken Bauch und der breiten Brust, und wie ein Hippie trug er das Haar lang bis auf den Kragen. Er gab jedes Mal unterschiedlich viel, zwei-, drei-, auch vierhundert Rupien in kleinen Scheinen, doch immer mindestens doppelt so viel, wie er hätte zahlen müssen, weshalb sie sich freute, wenn er kam. Er bestellte Starkbier, Cannon oder Khajuraho, und fläzte sich auf dem Bett, trank aus der Flasche und tratschte über das Privatleben von Raj Kapoor und Nargis, Shashi Kapoor und Shabana Azmi und über seine Lieblinge Amitabh Bachchan und Rekha. Er küsste Dimple auf die Lippen. Sie wischte sich den Mund ab; er küsste sie erneut. Er ließ sich Zeit, verriegelte die Tür und blieb, bis die Tai an die Trennwand hämmerte und schrie: Salim. Schluss jetzt. Zeit ist um. Mach auf, Dimple, oder ist er in dir krepiert?
Eines Abends bat er sie, eine Tasche für ihn aufzubewahren, eine Umhängetasche der Air India mit zugezogenem Reißverschluss, die aber nicht verschlossen war. Er gab sie ihr und verschwand. In der Tasche lagen bündelweise Rupienscheine und zwei Pistolen, eingewickelt in ein T-Shirt, große Sechsschüsser, wie die Knarren, die Clint Eastwood in den amerikanischen Filmen immer zog. Sie stellte die Tasche in einen Stahlschrank und trug den Schlüssel an einer Kette, die sie am Bund ihres Salvars befestigte. Drei Wochen lang blieb Salim verschwunden. Als er zurückkehrte, wirkte er seltsam geschrumpft und hatte blaue Flecke an den Fußsohlen und auf dem Rücken. Er sagte: Ein Schwätzchen mit der Polizei, ein freundlicher Plausch, Yaar, mit den braunen Krähen. Sie holte eine Flasche White Flower Oil aus einer Kiste, die Mr Lee ihr gegeben hatte und rieb ihn damit ein. Das kalte Öl beschleunigte die Heilung. Danach brachte ihr Salim oft kleine Geschenke mit: eine Plastikhaarspange, einen Schlüsselring, eine winzige Handtasche, ein schwarzes, in Leder gebundenes Notizbuch mit Fächern für Kreditkarten und Fotos, einen Kalender, in dem die Vorwahlen aller Städte der Welt standen. Manchmal wollte er keinen Sex, wollte sich nur mit ihr unterhalten. Dann sollte sie ihm erzählen, was in dem Buch stand, das sie gerade las, und sie bemühte sich, einen dreihundertseitigen Roman von einem lateinamerikanischen oder europäischen Autor in wenigen Sätzen zusammenzufassen. Er fragte, wie es ihr gehe, wie ihr Tag gewesen sei, und das ärgerte sie. Was gab es da zu sagen? Ihre Tage verliefen immer gleich. Sie arbeitete im 007 , dann arbeitete sie bei Rashid, und wenn sie nicht arbeitete, brachte sie sich Englisch bei, mehr gab es nicht zu erzählen. Seine Fragen waren sinnlos, aber tröstlich. Sie fragte sich, ob es so war, wenn man verheiratet, wenn man eine Ehefrau war. Gelangweilt, verärgert und getröstet, alles zugleich.
»Warum hörst du auf?«
»Weil sich mir die Gelegenheit bietet.«
»Was, wenn ich dir auch eine Gelegenheit bieten würde?«
»Ich würde drüber nachdenken, aber bislang hast du es ja noch nicht getan.«
»Tue ich aber, darauf kannst du wetten. Ich tu’s schon bald.«
Aber er tat es nie, und eines Morgens lud Dimple ihre Sachen in ein Taxi: Mr Lees Blechkisten,
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