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Narcopolis

Narcopolis

Titel: Narcopolis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeet Thayil
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vier, fünf in Tücher gewickelte Kartons und eine vielteilige Schminkkassette, wie sie von Stewardessen der Air India benutzt wurde. Es war kurz nach acht Uhr früh am Weihnachtsmorgen, und kaum jemand war wach. Niemand sah sie fahren, nur Lakshmi, die sagte: Was du auch machst, Schlampe, komm bloß nie wieder.

Drittes Buch
    Die Berauschten
    1 Ein Spaziergang auf der Shuklaji Street
    Jamal, der ältere Sohn, wartete vor der Tür. Wie lange schon? Der Junge hatte so eine Art, lautlos zu erscheinen, wie aus dem Nichts aufzutauchen, mit großen Augen und ausgestreckter Hand. Er war sechs Jahre alt, aber durchaus schon ein Geschäftsmann, der von seinem Vater bloß Bares wollte. Je nach Laune gab Rashid ihm einen kleinen Betrag – oder auch nicht. Heute war er opiumkrank und verstört, und Gottes Worte blubberten in seinem Schädel. Nein, sagte er seinem Sohn. Raus mit dir, raus. Mit mürrischem Blick zog Jamal sich zurück, und Rashid polterte die Holztreppe hinunter, während er sich damit abmühte, ein Hemd überzuziehen, über Bauch und Arme, die so dick waren, dass es einen zusätzlichen Kraftakt brauchte, ein zusätzliches Ziehen, eine zusätzliche Drehung. Er dachte: Ich bin ein fetter Geschäftsmann. Wann ist das passiert? Gerade eben war ich noch ein spindeldürrer Gangster, der versuchte, sich einen Namen zu machen, und jetzt sieh mich einer an, ein Unternehmer, mit Geld in der Tasche und dem kürzesten Arbeitsweg der Welt – durch die Tür, Treppe runter –, aber nichts davon verschafft mir auch nur einen Augenblick inneren Friedens. Wie konnte das bloß passieren?
    Die Shuklaji Street sponn ein fiebriges Netz lärmend lauter Zimmer, Partyzimmer, Familienzimmer, Gotteszimmer, geheimer Zimmer, die tagsüber kleiner und nachts größer wurden. Als Straße machte sie nicht viel her, war schmal und ewig verstopft vom endlosen Strom der Autos, Laster, Schubkarren und Fahrräder, doch zog sie sich fast von der Grant Road bis zum Bombay Central hin, und wer sie entlangspazierte, sah die sinnlichste Gegend der Stadt, sah ihre vielen Nasha- und Sexzimmer. Mitten drin lag Rashids Khana, die Opiumhöhle, ein Wahrzeichen der Straße. Ausgebildetes Personal. Original chinesische Opiumpfeifen. Kredit für Kreditwürdige. O von bester Qualität. Hierher kamen Opiumtouristen, denen ein Freund irgendwo am Strand in Spanien oder in einem römischen Café davon erzählt hatte, und sie waren den weiten Weg in die Shuklaji Street gekommen, um die Khana mit eigenen Augen zu sehen. Sie rauchten ein, zwei Pfeifen, denn darum ging es schließlich, und dann saßen sie stundenlang herum, tranken Tee, machten Fotos und sammelten Souvenirs, die sie daheim vorzeigen konnten. Wie das Paar aus Amsterdam, das ihn gefragt hatte, ob es seine Wohnung sehen könne. Er führte die beiden nach oben, wo seine Familie Räume bewohnte, die den gesamten oberen Stock einnahmen, Räume, in denen seine Frauen große Mahlzeiten zubereiteten, seine Kinder herumlungerten und er der meist abwesende Vater und Ehemann war. Das holländische Pärchen wollte alles sehen, jedes Zimmer, als wären sie auf einer geführten Tour, genössen einen Bonus ihres Opiumabenteuers. Sie schüttelten den Mitgliedern seiner Familie die Hand und stellten endlos Fragen. Wie viele Kinder er hatte? Wie viele Frauen? Hatte er schon immer in Bombay gewohnt? Wieso war sein Englisch so gut? Gingen seine Kinder zur Schule?
    Dann wollte die Frau wissen, wie ein typischer Morgen für ihn aussah, und er wusste darauf keine Antwort. Wie sollte er ihr sagen, dass er spät aufstand und gleich hinunter in die Khana ging, der Körper wie betäubt von sechs, sieben Stunden ohne Droge, den Kopf voller Visionen vom Höllenfeuer und der Vernichtung dieser gottlosen Welt, so dass er eine Stunde mit der Pfeife brauchte, ehe die Welt sich wieder auf die Füße stellte? Und dann, irgendwann am späten Nachmittag, nach einem Bad und einer Mahlzeit, trat er hinaus auf die Straße und redete ein paar Worte mit den Freiern.
Alles okay? Gut? Ja
. Einsilbige Begrüßungen oder nicht einmal das, vielleicht nur ein Nicken, ein Lächeln, wenn ihm danach war. Nur um da zu sein, sich ein wenig die Beine zu vertreten, zwischen den Pferdedroschken, den schwarzgelben Taxis, den Männern und Frauen, die sich schreiend über das Gehupe und Gewusel der Shuklaji Street hinweg verständlich machten: Er sah wippende Köpfe auf dem Weg zu irgendeinem schnellen Geschäft, kriminelle Apostel des großen Gottes

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