Narcopolis
Business, und wie ein freudiger Schock durchzuckte es seine Adern, wenn er durch die Menge schlenderte, sich Zeit ließ und alles in sich aufnahm.
•••
Von allen Straßenbewohnern hatte er den kürzesten Weg zur Arbeit, nur heute nicht. Er trat aus dem Haus, ging rasch zur nächsten Ecke und mied dabei das plötzliche Sonnenlicht. Es musste ein Feiertag sein, ein Hindu-Feiertag, denn der Tempel war voll, und er konnte den Priester sehen; sein verschossener, orangefarbener Dhoti funkelte in der Sonne. Auf der Straße waren zahlreiche Freier unterwegs, ehrbare Väter, Großväter und Onkel, anständige Bürger auf Urlaub vom Alltag. Sie strebten den nummerierten Zimmern über der Straße zu, und er hörte Satzfetzen auf Gujarati, Malayalam, sogar auf Englisch. Als er am Tempel vorbeiging, drängten sich ungewollt Gebetsfloskeln über seine Lippen. War er high, passierte ihm das nie, nur wenn er opiumkrank und nüchtern war – ja, dann war Gott stets nah.
Führe mich auf den rechten Pfad
, flüsterte er,
du, der du die Ungläubigen umringst. Deine Blitze rauben ihnen das Augenlicht
. Er wich einer kleinen Gruppe auf dem Bürgersteig aus, einem Krüppeltrio mit weißen Kippas und Pyjamas, das die Krücken an die Wand gelehnt hatte und über Geld stritt. Jeden Tag arbeiteten sie zusammen, bettelten Arm in Arm, jetzt aber überhäuften sie sich gegenseitig mit Vorwürfen. Er dachte: Allein der Gedanke, dass sich Muslime wegen ein paar Rupien streiten, verstößt gegen das Wort des Propheten. Oder aber er beweist, wie wahr es ist:
Wenn sich Gewitterwolken am Himmel ballen, voller Finsternis und schwarzem Donner, stecken sie sich in Todesangst die Finger in die Ohren
.
•••
Er bog in die Foras Road ein, betrat den Verkaufsraum des Uhrengeschäftes
Timely Watch
und klingelte, da wie gewöhnlich niemand im Geschäft war. Salim saß im hinteren Büro, stand aber auf, sobald er Rashid sah, und kam um den Schreibtisch herum, das neuste Modeaccessoire an den Gürtel geklemmt; Kopfhörer hämmerten ihm einen blechernen Beat in den Schädel, irgendeinen Discosound,
Saturday Night Fever
, natürlich, was denn sonst? Salims Vorbilder waren John Travolta und Amitabh Bachchan; seinen Stil und seine Sprache verdankte er diesen beiden, meist knallharte Jungs verkörpernden Schauspielern, zumindest behauptete das Rashids Frau. Heute trug er hellblaue Schlaghosen und Schuhe mit Plateausohlen, das Hemd im selben Blauton wie die Hose; das seitlich gescheitelte Haar fiel ihm in fettigen Strähnen auf die Schultern. Rashid trat an Salims Tisch und ließ sich in den Chefsessel aus Leder mit der schicken Kopfstütze sinken, zog einen Umschlag aus der Tasche und knallte ihn auf den Tisch, nur weil er ihm gefiel, dieser satte Ton, mit dem das Bargeld aufklatschte. Und weil es ihm gefiel, wie Salim zusammenzuckte und gleich einen Spiegel sowie eine Handvoll Glasröhrchen aus einer Schreibtischschublade holte. Rashid hatte bereits einen Hundert-Rupien-Schein aufgerollt. Er schüttete den Inhalt eines Röhrchens auf den Spiegel und schniefte die Line, noch ehe Salim sich einen Stuhl an den Tisch gezogen hatte. Salim gab sich respektvoll, ganz wie es sich gehörte: Er rührte den Umschlag nicht an.
»Hast du den Whisky besorgt?«
»Natürlich, Rashidbhai.«
»›Natürlich, Rashidbhai‹? Plötzlich so höflich, als wäre ich dein Onkel? Hast du Red oder Black geholt?«
»Black Label, deine Lieblingsmarke. Gar nicht so leicht aufzutreiben heutzutage.«
Rashid machte es sich in Salims Sessel bequem, und der Sitz kippte mit leisem Klicken nach hinten, ein besonderer Mechanismus, der sich mit winzigen Veränderungen seinem Gewicht anpasste und es ihm erlaubte, sich weit nach hinten zu lehnen, ohne befürchten zu müssen, dass er umkippte.
»Toller Sessel, Yaar, dir muss es gutgehen.«
»Das tut es, Bhai. Arbeite ich hart, verdiene ich Geld. Höre ich auf, stehe ich auf der Straße.«
Rashid wusste, dass das stimmte. In Salims Metier, dem Verkauf von Kokain und Schwarzmarktwhisky an den Lala, war die Gewinnspanne nicht groß. Auch wenn er nebenbei noch ein paar Taschen ausraubte, riskante Aktionen mit fragwürdigen Resultaten, und tagsüber im Laden seines Chefs hockte, um sich um nicht vorhandene Kunden zu kümmern. Er war noch kein Jahr beim Lala, und schon zeigten sich erste Spuren in seinem Gesicht, Schatten unter den Augen wie Kerben in Leder. Der Lala stand auf kleine Jungen, und wenn sie für seinen Geschmack zu alt wurden,
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