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Narcopolis

Narcopolis

Titel: Narcopolis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeet Thayil
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es gesagt habe, habe ich es auch so gemeint. Hast du nicht: Du hast mich angelogen und lügst schon wieder, hast einen kranken Mann zum Narren gehalten. Dimples Tränen waren von etwas anderer Farbe als das Wasser, nicht ganz so durchscheinend, von einem helleren Blau. Alter Vater Lee, sagte sie, verzeihen Sie mir. Bitte, es tut mir so leid. Was muss ich tun, um Ihre Vergebung zu erlangen? Und in dem Moment, in dem sie Mr Lees Antwort hörte, begriff sie, dass sie ihn niemals zufriedenstellen konnte, dass er ihr Böses wünschte, ihr keinesfalls vergeben würde und sie sich selbst nie vergeben konnte, dass Kränkungen mit dem Tod nicht aufhörten, dass sie vielmehr nur noch klarer hervortraten.
    Mr Lee sagte: Rauch mehr Chemical.

9 Die berauschte Entität
    1992 wohnte sie schon fast zehn Jahre auf halber Treppe zwischen Rashids Khana und seiner Wohnung. Den Familienmitgliedern begegnete sie zwar hin und wieder auf der Treppe oder in der Nachbarschaft – was seine Frauen offenkundig verdross, denn sie senkten den Blick und eilten wortlos vorüber –, doch war sie nie in seinem Zuhause gewesen und wusste auch nichts über sein Familienleben. Er erwähnte seine Frauen nur selten, und wenn er es tat, dann bloß, um sich über eigentlich belanglose häusliche Angelegenheiten zu beschweren, fast, als wären sie Angestellte und er fände die Qualität ihrer Dienstleistungen enttäuschend. Dimple fragte sich, ob er im selben Ton über sie redete oder sie auch nur erwähnte. Seine Frauen führten ihm den Haushalt, wuschen seine weißen Hemden und kochten ihm das Essen, wie er es gern hatte. Dimple dagegen kam kein fester Platz zu. Sie gebar ihm keine Kinder, kochte nicht, bot nur Sex und Unterhaltung. Allerdings brauchte er sich über den Sex nicht zu beklagen, das wusste sie, denn Sex war einmal ihr Beruf gewesen, und darin war sie gut. Er konnte also nicht klagen, sie dagegen schon, nur gab es niemandem, mit dem sie darüber reden konnte. Rashid vertrug keine Berührung, kein liebevolles Anfassen, und Kuscheln kam schon gar nicht in Frage. Er mochte auch nicht mit ihr in der Öffentlichkeit gesehen werden. Und er brauchte zu lang, bis er kam. Manchmal dachte sie beim Ficken an eine Geschichte, die sie einmal gelesen hatte, eine Geschichte, die davon handelte, wie die Pest in einer Stadt in Europa Einzug hielt. Man nieste ein paar Tage lang, dann starb man, einfach so. Stellte sich heraus, dass sich jemand angesteckt hatte, wurde er auf einen Karren gepackt, zum Friedhof gebracht und dort lebendig abgeladen, um auf das Begräbnis zu warten. Männer und Frauen fielen auf dem Karren wie Tiere übereinander her und hörten selbst dann nicht auf, wenn sie von den Trägern gepackt und in die Grube geworfen wurden. Ihr kam es vor, als fickten sie und Rashid wie die an der Pest erkrankten Paare, in rasender Geilheit bis zum Tode.
    •••
    Sie bat, erzähl mir von deinem Leben oben in der Wohnung, davon, wie es ist, eine Familie zu haben und nie einsam zu sein. Rashid schüttelte nur den Kopf. Er rauchte einen mit Chemical angereicherten Joint. Warum die Dinge verkomplizieren, sagte er, ich bin glücklich. Außerdem, wenn man über etwas redet, dann bringt das Unglück. Eigentlich, sagte sie, bringt darüber reden gerade kein Unglück, denn wenn man es in Worte fasst, kann es nicht mehr passieren. Solch grundlegende Tatsachen kannte er nicht, weil er in Sachen Aberglaube noch ein Amateur, sie auf diesem Gebiet aber eine Meisterin war, doch beließen sie es dabei. Dimple brachte ihn zur Tür, und während sie zusah, wie er die Treppe hinaufging, kam es ihr vor, als wäre er ihr einziger Kontakt zu den Lebenden. Sie hatte an diesem Tag sonst niemanden zu Gesicht bekommen. Die Khana blieb geschlossen, in der Stadt herrschte Ausgangssperre, und wenn sie auf die leeren Straßen blickte, fühlte sie sich wie die letzte Überlebende einer schrecklichen, planetaren Katastrophe. Sie blieb noch auf dem Treppenabsatz stehen, als Rashids Schritte bereits verklungen waren. Ein Schweißfilm überzog ihr Gesicht, und sie genoss die kühlende Luft. Dann schnüffelte sie und dachte: Ich rieche nach Sex. Gleich darauf fiel ihr auf, dass jemand im Dunkel der Treppe kauerte, die zur Straße hinabführte. Dimple machte einige Schritte, entdeckte aber niemanden. Chemical, dachte sie, davon verrottet mir das Hirn. Ich unterhalte mich mit einem Toten und fürchte, beobachtet zu werden.
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    Sie saß auf dem Boden, schlug das Buch auf, das

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