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Narcopolis

Narcopolis

Titel: Narcopolis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeet Thayil
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Bettlerin mit der schicken Frisur, deren Leichnam man auf der Straße gefunden hatte, laut Zeitung das jüngste Opfer des Pathar Maar. Oder war sie ein Opfer der Hindu-Muslim-Kriege? Welcher Gemeinschaft hatte sie angehört? Wusste sie das? Das tat niemand, dachte er, nicht einmal der Mann, der sie zu seinem Vergnügen umgebracht hatte; und er vögelte Dimple, die das Chemical in Halbschlaf versetzte. Rashid sah ihren Kopf vornüberfallen und schloss die Augen, um sich ganz auf seinen Orgasmus zu konzentrieren, doch auf einer Tintenwelle schwappte ein abgeschlagener Kopf an ihm vorbei. Als der alte Chinamann herumwirbelte und ihn anlächelte, schrie Rashid einen Namen. Er zog sich aus Dimple, sank zu Boden und rang nach Luft. Welchen Namen er geschrien hatte? Das wusste er nicht. Er erinnerte sich nur an das, was er nie wieder vergessen würde, nämlich an die Offenbarung, die gleich darauf folgte: Träume können entweichen.
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    Das können sie, dachte Rashid, der auf dem Boden von Dimples Zimmer hockte, während draußen die Krähen verstummten, und ein in der Nähe brennendes Lagerhaus die Straße in rotes Licht tauchte. Träume entweichen, verbreiten sich von Kopf zu Kopf, wandern zwischen jenen hin und her, die in dieselbe Richtung schauen, zwischen Liebespaaren also, aber auch zwischen denen, die durch Rausch und Tod miteinander verbunden sind. Deshalb ist der alte Chinesenkopf in meinem Schädel. Ich träume Dimples Träume, und ich will, dass sie aufhören, nur weiß ich nicht, wie. Die Bettlerin ist tot, Dimple auch, und ich verdiene den Tod, weil ich die Toten ficke. Er roch den Rauch vom brennenden Lager, der Schweiß brach ihm aus, das Zimmer färbte sich rot. Ich habe es verdient, hier in der Hölle zu schmoren, dachte er, während er seinen Schwanz nahm und ihn so fest drückte, wie er nur konnte. Dann schrie er laut und sah sich selbst in einer Vision der Zukunft, wie er in einem Zimmer saß, während es draußen Abend wurde, noch immer träumte er ihren Traum, nur handelte dieser Traum nicht von Mr Lee, sondern von ihm selbst, Jahre nach Dimples Tod. Er war alt, fromm, wartete auf ihren Geist und hörte ihre künftigen Worte, die schönen Worte, mit denen sie ihn begrüßte: Träume können entweichen und die Toten wiederkehren, doch nur, wenn ihr uns liebt. Von den Dutzend Worten, die sie ihm in der Zukunft sagte, würde ihn das Wort Liebe besonders berühren, da es nie zuvor zwischen ihnen gefallen war, kein einziges Mal in all der gemeinsam verbrachten Zeit. In jenem zukünftigen Moment kannte Rashid die Wahrheit der Worte, doch war er froh, sie von ihr zu hören, und er war dankbar und verwirrt, dankbar, dass sie zurückgekommen war, um ihm dieses Kompliment zu machen.
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    Sie hatte darüber nachgedacht, was sie sagen sollte, hatte sich vorbereitet. Als Mr Lee sich darüber freute, dass sie zurückgekommen war, sagte sie, ist doch selbstverständlich. Wie hätte ich nicht kommen können? Das war ich Ihnen schuldig. Und nun erzählen Sie, was Sie mir beim letzten Mal erzählen wollten. Er blinzelte sie an, das reglose Gesicht flackerte im Blau. Sie bemerkte die winzigen Bläschen in seinen Mundwinkeln. Im frisch erworbenen, akzentfreien Englisch sagte er: Als mein Vater starb, veränderte sich unser Leben von Grund auf. Mutter wurde fortgeschickt, und ich musste anfangen zu arbeiten. Meinen Vater interessierte es nicht länger, ein Mann zu sein. Er hatte nur noch Opium im Kopf. Dann starb er, ließ uns im Stich, doch habe ich sein Andenken stets geehrt. Ich beging die Zeremonien so lange wie irgend möglich. Ich habe meine Sohnespflichten erfüllt. Als ich dann selbst Vater wurde, fürchtete ich, wie er zu werden, ein Opiumsklave, fürchtete, ich könnte vergessen, was es heißt, ein Mann zu sein. Folglich achtete ich darauf, achtete sehr sorgsam darauf, dass ich meiner Verantwortung gerecht wurde. Und was hast du getan, als ich starb? Warst du nicht meine Tochter? War ich dir nicht ein besserer Vater als dein echter Vater? Ich verließ dich erst, als ich keine Wahl mehr hatte. Bis dahin gewährte ich dir meinen Schutz und teilte mein Leben mit dir, all meinen Besitz. Im Gegenzug bat ich dich nur um eines. Als du sagtest, du würdest tun, worum ich dich bat, hast du da bereits gewusst, dass du es nicht tun würdest? Diese Frage wollte ich dir stellen. Deshalb bat ich dich zurückzukehren. Sie antwortete so leise, dass sie selbst es kaum verstehen konnte. Nein, Vater Lee, als ich

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