Narcopolis
Kopf eines alten Mannes, der Kopf von Mr Lee, der zu ihr herumfuhr und sagte: Ich habe auf dich gewartet. Weißt du, warum ich am Grunde dieses Pools hocke? Sie wusste es, natürlich wusste sie es, nur konnte sie nicht reden. Weil du dein Versprechen gebrochen hast, fuhr Mr Lee fort. Weil du mich angelogen hast. Du hast gesagt, du seist meine Tochter, aber du hast dich nicht wie eine Tochter verhalten. Du hast mich verlassen. Das weißt du doch, nicht wahr? Dimple nickte. Du hast versprochen, meine Asche nach China zu bringen, aber das hast du nicht getan. Weißt du überhaupt, wo sie abgeblieben ist? Nein, Vater Lee, ich weiß es nicht, brachte sie schließlich hervor. Ihr fiel auf, dass sein Gesicht nicht richtig nass, sondern von winzigen Bläschen überzogen war, und sie merkte auch, dass das Wasser kälter wurde. Weißt du, warum ich hier bin? Um mich an mein Versprechen zu erinnern, sagte sie. Um dafür zu sorgen, dass ich es niemals vergesse. Du hast völlig recht. O ja, und diesmal hast du es verstanden. Erst da fiel ihr auf, dass er perfekt Englisch sprach, und sie fragte sich, ob er das schon immer gekonnt, seinerzeit aber beschlossen hatte, es nicht zu tun. Ich bin hier, weil meine Seele nicht an den ihr angemessenen Ort reisen kann, sagte er. Ich habe meinen Leib verlassen oder mein Leib mich, das ist der erste Tod. Der zweite Tod beginnt, wenn jene, die uns lieben und die wir lieben, gleichfalls sterben oder uns vergessen; wenn unsere Namen nicht länger genannt werden. Seelen wie die meine müssen warten – mag sein, dass uns Unerledigtes umtreibt, dass wir eines gewaltsamen Todes gestorben sind, dass wir kein angemessenes Begräbnis erhielten oder unsere Kleider nicht mit uns verbrannt wurden – wir müssen warten, aus welchem Grund auch immer, aber wir können einzig und allein im Wasser existieren. Sonst würden wir verschwinden. Das gefällt mir nicht. Ich rauche chinesisches Opium, das beste der Welt: Natürlich hasse ich Wasser. Doch wenn ich überdauern will, muss ich hierbleiben. Kannst du dir vorstellen, was das für eine Qual ist? Kannst du dir vorstellen, wie wütend mich das macht? Natürlich kannst du das nicht, du gehörst ja zu den Lebenden, sagte Mr Lee derart verächtlich, dass Dimple zusammenzuckte. Na schön, für den Moment höre ich auf zu reden. Gut, erwiderte Dimple, denn du hast eine Menge gesagt, das hast du wirklich. Ihr fiel auf, wie eisig das Wasser war und dass sie ihre Glieder nicht mehr spürte. Doch Mr Lee war noch nicht fertig. Ein Letztes: Du musst mich tragen, nimm mich Huckepack, denn mein Bein ist immer noch gebrochen. Nichts ändert sich, wenn man stirbt, nur kann man höchstens noch die Hälfte dessen machen, was man vorher machen konnte, und die andere Hälfte interessiert einen nicht mehr. Ach ja, und man muss in diesem eiskalten Wasser leben. Dimple hievte ihn sich auf den Rücken, er wog so gut wie nichts, und sie ließen sich an die Oberfläche treiben, wo er auf dem Wasser schaukelte und atmete, sie aber nicht loslassen wollte. Er umfasste ihr Gesicht und flüsterte ihr ins Ohr. Komm zurück, und ich gebe dir Gelegenheit, dein Versprechen zu erfüllen. Dann schwamm er flink davon. Und dies war der Augenblick, in dem sie spürte, wie sie erneut zu sinken begann, wie sich die Lungen mit Wasser füllten, und sie wusste, sie würde aufwachen müssen oder sterben.
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Es war schwierig, Obst und Gemüse zu kaufen, aber Garad gab es im Überfluss. Jemand sagte, sie solle nicht ausgehen. Der Mob hatte das Polizeirevier in Brand gesetzt, und bewaffnete Banden trieben sich umher, die Passanten verbrannten oder vergewaltigten. Der Mann erzählte ihr auch, wie die Unruhen angefangen hatten, nämlich wegen eines Gerüchts, demzufolge eine sechsköpfige Hindufamilie bei lebendigem Leibe verbrannt worden war; bei den Mördern handelte es sich um Muslime, und die Kinderschreie habe man noch in weiter Ferne hören können. Bloß ein Gerücht, doch loderten in der Stadt jetzt echte Feuer. Die Shuklaji Street war bislang davon allerdings verschont geblieben. Als Dimple aus dem Haus ging, fiel ihr auf, dass sich auf den Straßen allein Garadulis in nennenswerter Zahl herumtrieben, fast, als wären sie von der Hand eines Gottes berührt worden, der mächtiger als jene Götter war, die überall in Flammen standen; und da ein großer Gott sie berührt hatte, blieben sie für Menschenhand unangreifbar. Bei Salim rauchte Dimple Chemical, nur wenig, da sie mittlerweile
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