Narr
trugen Jahreszahlen und Maxim las »Jahrgang 1921« oder »Année 1935«.
»Das hier ist das Whisky-Lager«, erklärte der Informant andächtig, »daneben gibt es auch noch ein Cognac- und ein Schnapsdepot in der gleichen Größe.«
Solowjov hielt den Atem an angesichts des Vermögens, das in diesem Keller lagerte. Damit könnte er ein Schloss in Jekatarinenburg kaufen und bis an sein Lebensende nur mehr Gedichte schreiben, ohne sich jemals wieder Sorgen um Geld machen zu müssen.
Mit einer Kopfbewegung verscheuchte er den Gedanken. Da bemerkte er aus den Augenwinkeln, wie einer der Männer in den langen Mänteln eine Pistole aus der Tasche zog, ohne zu zögern dem Informanten in den Rücken schoss und die Waffe dann auf ihn richtete.
»Es tut mir leid, Genosse Solowjov, Ihr Weg ist in Wien zu Ende.« Der Akzent des Mannes erinnerte Maxim an seine Heimat. »Hier liegt zu viel Geld, um Sie leben zu lassen, das werden Sie verstehen.«
Seine beiden Gefährten wandten sich zum Gehen und Solowjov wusste, dass der Schuss bald kommen würde. Mit der linken Hand tastete er nach dem Amulett, während seine Rechte verzweifelt zum Halfter mit der Tokarev-Dienstpistole herabstieß. Noch im Ziehen wusste er, dass es zu spät sein würde.
Der erste Schuss traf Solowjov in den Bauch und der zweite in die Brust, knapp unter dem kleinen Foto seines Vaters, das ihm seine Mutter geschenkt hatte. In einem letzten Aufbäumen seines Lebenswillens drückte Maxim ab, wieder und immer wieder, und jagte eine Kugel nach der anderen in die Kiste mit den Handgranaten. Dann explodierte die Welt des Maxim Michajlowitsch Solowjov in einem großen, finalen Feuerball, bevor der endlose Sturz in die Dunkelheit kam.
Die Detonationen rissen die drei russischen Geheimdienstleute in Stücke und brachten den Zugang zum Keller völlig zum Einsturz. Das Fundament gab nach und das alte Handelshaus brach in sich zusammen. Tonnen von Ziegeln begruben Erinnerungen und Hoffnungen, Geldgier und Redlichkeit gleichermaßen.
Im Zuge des Wiederaufbaus ein Jahr später wurde das Grundstück eingeebnet und in den Fünfzigerjahren schließlich ein großer Vorgarten darauf angelegt. Der Neubau wurde nach den Wünschen der Bauherrn um zehn Meter von der Straßenfront zurückgesetzt, um so Abstand zum Verkehr zu gewinnen.
Maxim Michajlowitsch Solowjov wurde als vermisst gemeldet und fünf Jahre später für tot erklärt. Seine Mutter erreichte die Meldung nicht mehr. Sie erhängte sich 1947 auf dem Dachboden ihres kleinen Hauses in Jekatarinenburg.
2.9.2009
Heldenberg, Gut Wetzdorf, Niederösterreich/Österreich
N achtigall führte seine zwei nächtlichen Gäste durch den Hof des Schlosses Wetzdorf, wo bärtige Männer aus Stein als Kandelaber für mehrere Lampen dienten, die das Innere des Gebäudekomplexes erhellten. Der Butler schloss eine Türe auf, öffnete sie und verschwand auf einer schmalen Treppe. »Folgen Sie mir!«, rief er und stieg dann die knarrenden Stufen nach oben. Wenige Minuten später standen die drei Männer in einem kleinen, weiß ausgemalten Raum. Schmutzige Spinnweben hingen in den Ecken und über allem schien der Staub der Jahrhunderte eine schmierige, graubraune Schicht hinterlassen zu haben.
»Das hier ist der traurige Rest des Badezimmers von Joseph Gottfried Pargfrieder. Auch wenn es nicht so aussieht, aber das Bad war für den Beginn des 19. Jahrhunderts hochmodern. Sehen Sie nur«, erklärte der Butler begeistert, »hier in diesem Behälter in der Wandnische war seine Warmwasseraufbereitung. Ja, er war ein fortschrittlicher Mann, unser Herr Pargfrieder.«
»Wer genau war das eigentlich?«, erkundigte sich Wagner wie beiläufig.
»Ja, kennen Sie die Geschichte nicht?«, rief Nachtigall verwundert aus. »Am Heldenberg ruhen drei Helden in ewiger Ruh, zwei lieferten Schlachten, der dritte die Schuh! Nie gehört?«
»Nein«, gestand Wagner.
»Sie auch nicht?« Der Butler starrte ungläubig auf Sina.
»Doch, ich kenne den Spottvers. Aber ich lasse Ihnen den Vortritt, Sie sind schließlich hier zu Hause …« Georg machte eine einladende Geste. Dann beäugte er interessiert den Metallkessel mit Holzdeckel in der Wand und den wuchtigen Messingwasserhahn darunter.
»Herr Joseph Gottfried Pargfrieder war ein Armeelieferant, genauer gesagt der größte. Er belieferte die kaiserlichen Truppen mit Uniformen, Schuhen, Lebensmitteln, Wein und mit vielem mehr«, redete sich Nachtigall in Fahrt. »Herr Pargfrieder war reich, geradezu
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