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Narr

Narr

Titel: Narr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schilddorfer und Weiss
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Niobe. Alle bis auf Ilioneus, der dem Morden zunächst entkam. Um sein Leben zu retten, flehte er zu allen Himmlischen. Apollon hätte dem Jungen, von seinem Gebet gerührt, das Leben geschenkt. Jedoch sein Pfeil war schon abgeschossen und traf Ilioneus ins Herz.
    Wegen des ungeheuren Schmerzes über das Gemetzel an ihren Kindern versteinerten die Götter die trauernde Niobe. Aber selbst dieser Stein hörte nicht auf, Tränen zu vergießen.
    Sina stand ganz still. Er begriff, dass Niobe für Marianne Palffy stand und Leto niemand Geringeren als Amalia Wilhelmine von Braunschweig-Lüneburg verkörperte, die als Gemahlin von Kaiser Joseph I. von der regierenden Linie alle Kinder der Mätresse Palffy töten ließ. Aber offensichtlich zeigte einer der Olympier, wohl ein Kaiser, Gnade und ein Sohn der Schattenlinie überlebte das Massaker. Waren es Joseph II. und Balthasar Jauerling gewesen?
    Sina blickte sich um und sein Blick fiel auf die steinerne Raubkatze am Tor, die majestätisch ihr Reich bewachte und abgrenzte. Es war gekommen, wie er es befürchtet hatte. Sie waren in die Höhle des Löwen gelockt worden. Der König der Tiere war auch das Wappentier der Habsburger … Georg verzog das Gesicht. Darum war auch hier die erste Bombe hochgegangen, um auf die Geschichte hinzuweisen. Das Attentat gehörte von Anfang an zum Plan der Schattenlinie. Es markierte den Ort, sollte daran erinnern, dass sie beinahe ausgelöscht worden wäre, aber dann doch überlebt hatte.
    Paul plauderte derweil mit dem Butler, als gäbe es kein Morgen, und Georg dachte hektisch nach, wie er seine Erkenntnisse so unauffällig wie möglich an den Mann bringen könnte.
    »Sie bekommen auch sicher keine Schwierigkeiten, wenn Ihr Dienstherr bemerkt, dass wir zu nachtschlafender Zeit über sein Grundstück laufen?«, hakte Wagner nach.
    »Aber nein, er ist gar nicht da«, schmunzelte der ältere Herr. »Er ist nur selten auf Schloss Wetzdorf. Die meiste Zeit ist er auf Reisen. Wir haben zurzeit nur einen Gast hier, und die ›kleine Erzherzogin‹ wird sich nicht gestört fühlen, wenn ich Sie ein bisschen herumführe.«
    »Wer?« Wagner zog die Brauen zusammen.
    »Das ist nur ein Spitzname. Das Fräulein Anna ist eine reizende Person …« Nachtigall beugte sich zu Paul und flüsterte: »Aber sie ist ein wenig seltsam.« Er tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirne. »Sie nachtwandelt. Meine Frau hätte einmal fast der Schlag getroffen. Stellen Sie sich nur einmal vor, Sie sind in der Nacht in den Gängen eines dunklen Schlosses unterwegs und plötzlich begegnen Sie einer blassen jungen Frau in einem weißen, wallenden Nachthemd …«
    Paul lachte. »Ich würde mich gerne einmal mit einem Geist unterhalten! Und wie kommt sie dann zu dem eigentümlichen Spitznamen?«, fragte er dann.
    »Wie gesagt, interessiere ich mich für Geschichte …«, holte Nachtigall aus, »und insbesondere für die Familie Habsburg. Die Schwester von Ferdinand dem Gütigen war, wie auch er selbst, leider behindert, weshalb sie des Nachts durch die Gänge von Schloss Schönbrunn und anderer Kaiserappartements geisterte. Ihr Name war Erzherzogin Maria Anna – daher der Spitzname.«
    »Ich verstehe«, sagte Wagner und schaute sich nach Georg um, der ihn alarmiert anblickte.
    »Ich muss dir dann unbedingt etwas erzählen, Paul. Aber nicht jetzt …«, murmelte der Wissenschaftler. Er deutete mit dem Kopf auf den Butler, der langsam in Richtung des Schlosses humpelte. »Mir ist gerade eines klar geworden. Wir befinden uns im Auge des Sturmes …«
    »Den Eindruck habe ich langsam auch«, flüsterte Paul. »Hier stimmt wirklich etwas nicht.«
    Der alte Mann hatte sich umgedreht und fixierte sie. »Nicht einmal die Russen nach dem Zweiten Weltkrieg haben sich getraut, das Schloss und die Gedenkstätte zu plündern«, rief er ihnen unvermittelt zu und sein hohes, gackerndes Lachen schallte durch die Nacht.
    Tschak begann zu bellen.
    8. September 1945, russische Besatzungszone, Wien/Österreich
    G eneraloberst Iwan Stepanowitsch Konjew blickte aus seinem Büro im Palais Epstein, in unmittelbarer Nähe des Parlamentsgebäudes gelegen, auf die Wiener Ringstraße hinunter. Ein Spätsommertag ging zu Ende und der Große Krieg schien bereits Jahre weit weg, obwohl gerade vier Monate seit dem Inkrafttreten des Waffenstillstandes vergangen waren.
    Die vier Besatzungsmächte hatten Wien, das an vielen Stellen schwer zerstört und durch alliierte Bombenangriffe bis ins Mark getroffen

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