Narrenspiel: Peter Nachtigalls dritter Fall (German Edition)
Eltern, Kindern bis zu den Urgroßenkeln ist jeder vertreten. Sie sind ein Anker in der Vergangenheit, doch manchmal küssen meine Damen schon mal den falschen Soldaten.«
Etwas irritiert wandte er sich um.
An einer langen Kaffeetafel hatten sich fünf Damen versammelt, die eifrig verschiedene Sorten Kuchen und Gebäck herumreichten. Seltsam war, dass sie sich dabei kaum unterhielten und wenn doch, konnte Wiener nicht verstehen, was gesagt wurde. Von ihrem Besucher nahmen die fünf keine Notiz und der Kripobeamte glaubte, das käme daher, dass in einer Wohngemeinschaft naturgemäß oft fremde Leute hereinschneiten und man sich einfach an die Anwesenheit unbekannter Gäste gewöhnt hatte.
Frau Werner verkündete schnörkellos: »Das ist sie«, und wies auf eine der Damen.
Annamaria Wurz war eine kräftige, weißhaarige Dame mit zitternden Händen. Sie sah den jungen Mann ratlos an, bat ihn dann aber doch, sie in ihr Zimmer zu begleiten. Juliane Werner schickte sich wie selbstverständlich an, die beiden zu begleiten.
»Ich würde gerne mit Frau Wurz allein sprechen«, erklärte Wiener bestimmt und Frau Werner lächelte nachsichtig. »Gut. Wenn Sie Hilfe brauchen, rufen Sie nach mir.«
Der Raum, den Frau Wurz bewohnte, war klein und barg alle Erinnerungen an ein langes Leben.
Die Luft war abgestanden und es roch nach Urin. Außer einem Bett, einem Stuhl, einem kleinen Schrank und einem Nachttisch war das Zimmer leer – es gab weder Bilder an den Wänden noch Bücher. Nicht einmal ein Romanheft lag auf dem Nachttisch.
Nervös setzte sich die alte Dame auf die Bettkante und wartete.
»Frau Wurz, ich bin hier, um Sie noch einmal zum Tod Ihrer Mutter zu befragen.«
Sie lächelte unbestimmt und fuhr sich durch die ungekämmten Haare.
»Sie wurde krank, nachdem sie verdorbene Nahrungsmittel gegessen hatte, und starb. Können Sie sich noch daran erinnern?«
»Ja. Aber ich war’s nicht.« Ein trotziger Ausdruck überzog ihr Gesicht.
»Nein. Aber der Mann, der damals schuld war, wurde ermordet.«
»Sie ist tot?«
»Ja«, Michael Wiener brach der Schweiß aus.
»Ich war’s aber nicht«, trumpfte sie auf.
»Nein. Haben Sie noch Geschwister oder Kinder, Frau Wurz?«
Sie lächelte wieder milde.
»Einen Bruder oder eine Schwester vielleicht?«
Sie kicherte albern.
»Oder eigene Kinder?«
»Ja. Nein.«
Damit stand sie auf und ging wortlos an Wiener vorbei über den Flur. Er folgte ihr. Im Wohnzimmer setzte sie sich wieder an ihren Platz und sagte plötzlich: »Sie ist tot!«, legte ihre Arme auf den Tisch, ließ den Kopf langsam vornüber sinken und fing an, bitterlich zu weinen.
Eine ihrer Nachbarinnen rückte näher an sie heran, nahm sie in den Arm und begann sie mit unverständlichem Singsang zu trösten.
Verständnislos starrte Michael Wiener auf die Szenerie.
Juliane Werner tippte ihm von hinten auf die Schulter.
»Vielleicht ist es besser, Sie fragen mich. Ich bin hier die Betreuerin – und werde mir größte Mühe geben, Ihnen weiterzuhelfen.«
»Betreuerin? Warum muss Frau Wurz denn betreut werden, ist sie krank?«
»Alle in dieser Gruppe sind irgendwie krank. Es ist eine Wohngemeinschaft, in der Demenzkranke leben und gemeinsam den Alltag bewältigen. Damit das auch wirklich klappt, bin ich für die Damen da.«
»Ihren Alltag bewältigen – wie soll ich mir das vorstellen?«
»Manche Dinge können sie noch gut allein. Einige waschen sich noch selbst, ziehen sich selbst an. Einkaufen gehen wir zusammen. Das Kochen ist auch ein Gemeinschaftswerk. Ich passe natürlich auf, damit nichts schief geht. Studien belegen, dass sich das Fortschreiten der Krankheit verlangsamt, wenn die Betroffenen gefordert werden.«
Der junge Mann warf noch einen Blick auf das seltsame Kaffeekränzchen, dann drehte er sich zu Frau Werner um und folgte ihr in die Küche.
Die Betreuerin setzte Kaffeewasser auf und gab dem jungen Mann Zeit, sich zu sammeln, bevor er seine Fragen stellte. Er beobachtete, wie die kräftige, burschikose Frau sich bewegte, und überlegte, ob sie wohl unter ihrer langärmligen Bluse muskulöse Arme verbarg. Bestimmt kam es vor, dass sie eine von ihren Damen zur Räson bringen musste. Er erinnerte sich daran, gelesen zu haben, dass Demenzkranke zu aggressiven Ausbrüchen neigen.
»Die Mutter von Frau Wurz starb an einer Salmonelleninfektion. Verursacher waren verdorbene Lebensmittel, die ein Spediteur ausgeliefert hatte, obwohl er wusste, dass die Kühlanlage des Transporters defekt war.
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