Narrenspiel: Peter Nachtigalls dritter Fall (German Edition)
mit Ihnen über den Tod Ihrer Mutter vor drei Jahren unterhalten!«, stellte der junge Mann mit erhobener Stimme fest.
»Aha. Und?«
»Wir wurden mit einer entsprechenden Summe entschädigt. Sie war ja auch schon eine sehr alte Dame«, mischte sich Martha ein.
»Kommen Sie, Frau von Seisten, wir lassen die beiden Männer am besten ein paar Minuten allein.«
Damit schob Schwester Christiane Martha aus dem Raum und fing einen dankbaren Blick des Kripobeamten auf.
Die große Tür wurde geschlossen.
Leutselig beugte sich Freiherr von Seisten zu Michael Wiener hinüber.
»Wissen Sie, ich bin gar nicht schwerhörig. Aber es ist eine prima Sache, wenn alle glauben, man wäre es. Nach dem dritten Versuch, mir etwas zu erklären, streichen die Damen in der Regel die Segel und lassen mich in Ruhe meine Zeitung lesen, stören mich nicht bei der Lektüre eines guten Buchs. Auf der anderen Seite bekomme ich immer mit, was sie untereinander so tuscheln, zum Beispiel über mich«, er lachte heiser.
»Genial«, kommentierte Wiener zunehmend ratlos.
»Merken Sie sich diesen Trick, junger Mann. Alt werden Sie schnell genug und dann wissen Sie auch die Annehmlichkeiten der Ruhe zu schätzen.«
»Ich komme, weil der Spediteur, der damals für die verdorbenen Lebensmittel verantwortlich war, erstochen wurde. Wir suchen auch in seiner Vergangenheit nach Motiven.«
»Bei mir? Wie schmeichelhaft. Aber leider muss ich Sie enttäuschen. Der Familienbesitz ging schon vor dem Tode meines Vaters auf mich über. Meiner Mutter hatte er eine Apanage ausgesetzt, die ich nach ihrem Tod als Spende auf ein Konto der Welthungerhilfe überwiesen habe.«
»Sie haben Kinder?«
»Das fehlte mir noch! Nein, junger Mann! Diesen Dauerärger haben Martha und ich gerne anderen Paaren überlassen. Wir haben unser Leben genossen und tun es noch. Sollte ich sterben, wird Martha gut versorgt sein und das Vermögen wird an eine Stiftung überführt. Kinder! Nein, also wirklich nicht!«
»Und der Tod Ihrer Mutter hat Sie nicht getroffen?«, wechselte Michael Wiener das Thema.
»Getroffen? Meine Mutter ist einhundertundzwölf Jahre alt geworden. Ihr Tod war traurig, aber dennoch absehbar. Vielleicht wäre es ihr lieber gewesen, auf eine andere Art zu sterben, aber das können wir uns in der Regel nicht aussuchen. Sie hatte ein erfülltes Leben und ist gefasst gestorben.«
»Keine Rachegedanken?«
»Nein. Selbstverständlich war ich verärgert über so viel Schlamperei, aber dafür hat das Unternehmen bezahlt. Für mich war die Angelegenheit damit erledigt. Ich werde im Dezember 90 – in meinem Alter verschwendet man keine Lebenszeit mehr für den Ärger über Dinge, die man ohnehin nicht mehr ändern kann«, antwortete Freiherr von Seisten mit seiner unsicheren, hohen Stimme.
»Danke für das Gespräch«, Wiener erhob sich und schüttelte dem alten Mann die Hand. »Bleiben Sie sitzen, ich finde allein zur Tür.«
»Quatsch! Nur weil ich etwas älter bin als Sie, werde ich doch nicht unhöflich!«
Zusammen machten sie sich auf den weiten Weg zur Eingangstür. Martha eilte herbei, um den Besucher zu verabschieden.
»Sie wollen schon gehen?«, fragte sie mit kokettem Augenaufschlag.
»Wen hast du gesehen?«, hakte der Freiherr nach, doch Martha winkte nur ungeduldig ab.
Michael Wiener floh zur Tür hinaus.
Noch vor dem Haus konnte er Martha schreiend antworten hören. »Ich habe niemanden gesehen! Komm, wir gehen in den Garten.«
»Warum soll ich noch warten? Ich habe jetzt Hunger!«
Annamaria Wurz wohnte in einer Parterrewohnung in der Spremberger Vorstadt. Zusammen mit vier weiteren Damen fortgeschrittenen Alters lebte sie hier in einer Wohngemeinschaft zusammen.
Michael Wiener wurde von einer Mitbewohnerin, die die 60 noch nicht überschritten haben konnte, in ein voll gestelltes, kleines Wohnzimmer geführt, wo die Damen sich zum Nachmittagstee versammelt hatten.
Auf der kleingemusterten Rosentapete hingen viele, kleine Bilder in Gruppen zusammen. Wiener entdeckte, dass es Sammlungen von Porträtfotografien waren, die zum Teil noch aus den Anfangszeiten der Fotografierkunst stammen mussten. Bilder von Männern im Anzug waren genauso vertreten wie Fotos von Soldaten in Uniform oder jungen Männern in buntem T-Shirt.
Juliane Werner, die ihn eingelassen hatte, bemerkte sein Erstaunen und erklärte: »Das ist wie eine Ahnengalerie. Jeder hier konnte die Fotos seiner Familienangehörigen an einem Platz zusammenhängen. Von Großeltern,
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