Narrenspiel: Peter Nachtigalls dritter Fall (German Edition)
es jetzt weitergehen im Text? Gut. Emile, hast du was zum Geißeln herausgefunden?«, führte er die Gruppe wieder zu ihrem Fall zurück.
»Ja, aber das ist wohl ein schwieriges Thema. Gerade jetzt, nach dem Film ›Sakrileg‹, hält man sich sehr bedeckt, was Informationen zu diesem Thema angeht. Es gibt Glaubensgemeinschaften, bei denen gehört diese Form der Selbstbestrafung zur Buße. Bei anderen ist es gar nicht üblich, sich selbst zu verletzen. Es ist wohl eher unter Mönchen als bei Nonnen verbreitet. Im Roman ›Der Name der Rose‹ wird ein Mönch beschrieben, der sich in seiner Zelle selbst auspeitscht. Mir wurde erklärt, es gäbe immer wieder religionsfanatisch Angehauchte, die glauben, sie müssten sich schlagen, um für sündige Gedanken zu büßen, also auch außerhalb der Klöster. Sie leben als unauffällige Nachbarn unter uns, niemand ahnt das Geringste von ihren schmerzhaften Ritualen. Allerdings ist es nicht nur ein im Abendland übliches Verhalten – es gibt auch Gruppen bei den Moslems, die sich geißeln. Sogar öffentlich. Im Irak gibt es eine Prozession zum schiitischen Aschura-Fest, bei der geißeln sich die Glaubensanhänger öffentlich. Sieht furchtbar aus, kann ich euch sagen. Sie tragen weiße Kleidung und das Blut läuft dann deutlich sichtbar daran herunter.«
»Warum geißeln?«, wollte Wiener wissen, »was hat das mit unserem Fall zu tun?«
»Die Narben auf dem Rücken des Opfers. Wilhelm Mehring erzählte mir von einem Jugendlager. Eines dieser kirchlich organisierten. Dort muss Hans-Jürgen Mehring wohl in Kontakt mit einem fanatischen Betreuer gekommen sein. Der zeigte ein paar Jungs, wie man sich geißelt. Der Vater meinte, der Junge sei völlig verändert aus den Ferien zurückgekommen und hat dieses sich-selbst-Schlagen wohl auch nach dem Ferienlager längere Zeit beibehalten.«
»Wie alt war er da?«, neugierig beugte sich Emile vor.
»So ungefähr 14.«
»Das ist tragisch. Pubertät. Es erwacht die Sehnsucht nach dem anderen Geschlecht – und dann kommt einer und erklärt dir, dass das, was du empfindest, nicht in Ordnung ist und du es unterdrücken sollst. Und damit es besser geht, zeigt er dir das Geißeln. Kein Wunder, dass der Junge verstört nach Hause gekommen ist. Er schlug sich selbst, um seine Lust zu überwinden und von Gott trotz dieser immer wiederkehrenden Lust angenommen zu werden.«
Sie schwiegen betroffen.
Couvier brachte nach einer langen Pause das Gespräch wieder in Gang.
»Eigentlich sollte das Geißeln die Gläubigen am Leiden Jesu teilhaben lassen. Im Internet gibt es Seiten, die behaupten, die Anhänger des Opus Dei müssten sich täglich den Bußgürtel umbinden – für mindestens zwei Stunden – und sich einmal in der Woche selbst geißeln.«
»Bußgürtel?«, wiederholte Albrecht Skorubski fragend.
»Ja. Auch eine Methode zur Selbstkasteiung. Ein Band mit eingearbeiteten Stacheln. Man zurrt es am Oberschenkel fest, wo es sich dann in die Haut bohrt und bei jedem Schritt erhebliche Schmerzen verursacht.«
Skorubski schüttelte sich. »Und das tut man sich freiwillig an, um Gott näher zu sein?«
»Die Schmerzen sollen dich daran erinnern, dass Jesus alles Leid der Menschen auf sich nahm. Wer nicht daran glaubt, kann das wahrscheinlich nicht verstehen. Ist ja bei anderen Religionen auch so – nur wenn du wirklich in diesem Gedankengebäude lebst, kannst du den Sinn der Riten und Bräuche nachvollziehen.«
»Das Opfer wies auch eine Reihe von Knochenbrüchen auf. Nach Aussage des Vaters zog er sie sich bei waghalsigen Sprüngen zu. Er testete damit, ob Gott ein Auge auf ihn habe und ihn vor Schaden bewahren wollte.«
»Gottesbeweise? Muss ja ein tolles Ferienlager gewesen sein! Die müssen doch mehr als nur einen Betreuer gehabt haben. Da sollte einer der anderen was bemerkt haben.«
»Ist wohl nicht weiter aufgefallen, erst als die Jugendlichen wieder in ihren Familien waren, spürte man die Veränderung.«
»Die Pubertät ist eine schwierige Zeit. Die Jugendlichen sind in vielen Lebensbereichen orientierungslos, wissen nicht, was wahr ist und was nicht, was gut ist oder böse. Viele kehren gerade in dieser Phase in den Schoß der Kirche zurück – zumindest für einige Zeit – weil sie hier wenigstens klar gesagt bekommen, was man darf und wie man sich zu verhalten hat. Wenn der Betreuer die Jugendlichen für seine Ideen begeistern konnte, weil er überzeugend war oder einfach nur ein cooler Typ, dann mochte sich auch solch
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