Narrenspiel: Peter Nachtigalls dritter Fall (German Edition)
Tastatur. Ein Fenster öffnete sich. Er klickte weiter und bald war eine ganze Galerie von Fotos auf seinem Monitor zu sehen.
»Du liebe Zeit. Dass man so was überhaupt überleben kann! Seht euch das an!«, schockiert deutete der junge Mann auf die Bilder.
Die beiden Kollegen scharten sich um ihn und starrten gebannt auf die Polizeifotos vom Unfallort.
Der blaue BMW hatte sich regelrecht um einen Alleebaum gewickelt. Von dem Wagen war kaum etwas übrig geblieben, der Fahrgastraum auf der linken Seite vollständig eingedrückt, die Windschutzscheibe zersprungen, die Kühlerhaube um den Stamm gebogen. In dem Chaos aus Blech, Glas und dem Füllmaterial der Sitze konnte man undeutlich eine Gestalt ausmachen. Durch den Aufprall war sie gegen die Scheibe geschleudert worden und saß nun auf dem Beifahrersitz. Sie schien eingeklemmt zu sein. Auf den Bildern wirkte es so, als habe sich das Auto durch Florians Körper hindurchgeschoben. Blut war an Scheibe und Karosserie gespritzt.
»Das sieht aus wie nach einem Sprengstoffanschlag«, flüsterte Wiener und öffnete ein Textfenster.
»Überhöhte Geschwindigkeit, nicht angeschnallt, nicht gebremst, er ist in der Kurve einfach geradeaus weitergefahren. Die Kollegen gehen von einem Suizidversuch aus«, las Skorubski laut. »So ein junger Mann! Vielleicht hat die Freundin mit ihm Schluss gemacht.«
»Ich schlage vor, wir fragen die Eltern. Vielleicht wissen die ja, warum Florian sich so etwas antun wollte. Er war der beste Freund von Markus Mehring – so erfahren wir auch ein bisschen was über ihn«, beschloss Nachtigall und gab Skorubski ein Zeichen.
»Michael, du hältst Kontakt. Eventuell ruft das Klinikum wieder an oder die Computerleute finden was auf den Datenträgern von Markus Mehring.«
Er war schon fast zur Tür raus, da rief Wiener ihm nach: »Braucht ihr keine Adresse?«
Er lachte, als Nachtigall seinen Kopf wieder ins Büro streckte. »Na, bitte!«
Die Familie Kessler wohnte in einem kleinen, grünen Haus mit dunkelgrünen Fensterläden am Ortsrand von Kiekebusch. Ein ebenfalls dunkelgrüner Lattenzaun umspannte das gesamte Grundstück. Der Vater war Finanzbeamter im Ruhestand, die Mutter pensionierte Lehrerin. Das kleine Häuschen war außerordentlich gepflegt, der Garten voller Überraschungen. Herr Kessler züchtete seltene Stauden und exotische Nadelgehölze. Der hintere Teil des Gartens wurde von einer Andentanne dominiert, die, wie Nachtigall wusste, sehr anspruchsvoll und empfindlich war.
Über dem Anwesen hing ein Hauch von Traurigkeit. Das Ehepaar sprach nur leise und schleppend miteinander und den überraschenden Besuchern. Frau Kessler knüllte ständig ein Taschentuch in ihren Ärmel, zog es hervor und stopfte es zurück. Nachtigall fiel auf, dass sie trotz der anhaltenden Wärme einen wollenen Pullover trug.
Herr Kessler bat die Ermittler ins Haus und lud sie ein, am Esstisch Platz zu nehmen.
»Kaffee?«
Sie lehnten dankend ab.
»Wir kommen wegen Ihres Sohnes Florian. Was für ein schrecklicher Unfall.«
Tränen stiegen in die Augen des Ehepaares, beide wischten sie nachlässig weg, als sei das eine Bewegung, die sie viele hundertmal am Tag durchführten.
»Ja. Es war schrecklich. Ist es noch.«
»Wie geht es Ihrem Sohn denn?«
»Tja – man sollte meinen, eine solche Frage sei relativ leicht zu beantworten. Aber in diesem Fall müssen wir zugeben, wir wissen nicht, wie es unserem Jungen geht«, antwortete Herr Kessler müde.
»Warum ist es so schwierig?«
»Er liegt seit dem Unfall im Koma. Er lebt, aber er ist nicht ansprechbar. Niemand weiß, ob er je wieder aufwachen wird«, Frau Kessler schluchzte leise.
»Den Akten nach war es ein Selbstmordversuch.«, Nachtigall dämpfte seine Stimme.
»Ja. Das stimmt. Er wollte sich umbringen, weil er einfach keinen Ausweg mehr gesehen hat«, antwortete die Mutter tapfer.
»Hat seine Freundin mit ihm Schluss gemacht?«
»Nein«, Tränen liefen über ihr Gesicht, sie beachtete sie nicht.
»Wir haben einen Abschiedsbrief gefunden. Er wollte verhindern, dass wir uns schuldig fühlen. Es ging um seine Tanzerei«, erklärte Herr Kessler heftig.
»Sein Solo bei den ›drei goldenen Haaren‹?«
»Genau. Er hat geübt und geprobt. Jede freie Minute. Und Florian ist ein wirklich großer Tänzer. Er kann in ein paar Jahren, wenn er einen guten Trainer findet, ein Star werden!«
Sie sah ihren Mann an und verstummte.
»Diese Tanzerei ist doch nichts für einen Jungen, nicht wahr? Aber er
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