Narrentanz - Bürkl, A: Narrentanz
Männer, und hetzte dem Kind nach. Es war fast dunkel draußen, als die Tür mit einer Ahnung von Endgültigkeit hinter ihr zufiel. Zum Glück trug sie heute eine maßgeschneiderte indische Kurta, eigentlich eine Herrenjacke, über ihren Pluderhosen, sodass sie sich einigermaßen gut fortbewegen konnte. Kleidung aus den Ländern des Teeanbaus war sozusagen die Linie ihres Salons. Der Wind hatte den Schnee wie weißen Zucker vors Portal geweht. Ein Paar Schi stand achtlos neben der Tür an die Wand gelehnt. Der Frost biss unbarmherzig in ihre Wangen, ihre Stirn, doch ihre Sorge galt dem Kind, es war zu klein, um in der Dunkelheit allein zurecht zu kommen.
Das letzte Tageslicht ließ den Schnee bläulich leuchten. Es schneite immer heftiger, Wind wehte ihr die harten kleinen Flocken beinahe waagrecht ins Gesicht. Sie wurden zu einem immer dichteren Vorhang, hinter dem die Berge verschwanden, als hätte es sie nie gegeben. Selbst die Lichter der nahe gelegenen Häuser leuchteten nur mehr verschwommen. In diesem blauen Licht, in dem alles möglich war und nichts mehr stimmte, suchte Berenike das Kind auszumachen. Die zunehmende Schwärze schluckte alle Farben. Da vorne stolperte etwas Richtung Seeufer, das musste es sein. Das Kind rutschte, fing wieder zu schreien an – die Stille zerbarst, das Echo brach sich zwischen den Bergwänden. Berenike rannte schneller, glitt aus, ruderte mit den Armen und fing sich im letzten Moment. Unter dem frisch gefallenen Schnee hatte sich Eis gebildet. Sie sah, wie das Kind ins Schlittern geriet, spürte es beinahe am eigenen Körper, wie es hinfiel, einen Moment sitzen blieb, und dann die Stufen zu einem der im Winter unbenutzten Bootsstege hinunter polterte. Berenike ihm nach. Schneller, noch schneller! Sie wusste nicht, ob das Eis trug, nicht hier in Ufernähe. Wenn sie nur einen Zipfel von der Jacke des Kindes erwischen könnte, oder seinen Schal vielleicht, irgendetwas! Sie streckte die Hände aus, da, die Kapuze, sie hatte das Stück Stoff zwischen den Fingern. Das Kind schrie noch schriller, zappelte unter ihren Händen. Aber sie hatte es erreicht, einen Meter vor dem Ufer, vielleicht eineinhalb. Bestenfalls.
Berenike atmete keuchend aus. Ihr fehlte das Training, leider. »Wer bist du?« rief sie und »Was machst du für Sachen?« Aber das Kind reagierte nicht. Sie folgte seinem Blick, von der im Dunkel kaum lesbaren Aufschrift des Bootshauses, »F.F. A.A. Wasserwehr«, hinaus auf das Eis. Der Wind hatte ein Stück des zugefrorenen Sees vom Schnee befreit. Dort schimmerte die hartgefrorene Wasseroberfläche milchigweiß, an einer Stelle schien sie dunkel und klar wie Glas. Erfrorenes Leben. Und dann sagte Berenike nichts mehr. Das Schreien des Kindes ging in Weinen über, ganz leises, umso fürchterlicheres Weinen. Sie nahm das Kind in die Arme. Die Kälte war schauerlich, kroch durch alle Kleidungsschichten, bahnte sich ihren Weg durch die Haut, erreichte gnadenlos die Knochen und ließ das Blut gefrieren.
*
Ein Geräusch ließ Berenike herumfahren. Eine einsame Krähe flatterte von der Seeoberfläche hoch und zerstob dabei den pulvrigen Schnee, der auf dem Eis lag. Ein paar Meter weiter setzte sich der schwarze Vogel wieder in das allgegenwärtige Weiß, das die Nacht heller machte und grausamer. Die Krähe spazierte hin, spazierte her, legte den Kopf schief, äugte in den schneelosen Krater neben dem Bootshaus, als wäre sie ebenfalls ratlos. Der dunkle Vogel krächzte auf, wie um seine Familie zu rufen, blieb aber allein, wohin auch immer ihre Krähenverwandten geflogen waren. Allein wie der letzte übrig gebliebene Gast auf einem Begräbnis. Die Krähe kam näher, beheulte und bekrächzte das weiße Etwas, das sich unter Wasser zeigte. Berenike wollte nach ihrem Handy greifen, aber das hatte sie wie so oft achtlos irgendwo liegengelassen, im Salon wahrscheinlich.
Sie musste jemanden holen. Jemanden, der ihr bestätigen konnte, was sie zu sehen meinte. Was sie gar nicht sehen wollte. Nicht schon wieder. Das, was da unter der Eisdecke lauerte, was dort nicht hin gehörte, das war weiße Haut … Menschenhaut. Ein rundes, helles Etwas. Es bewegte sich, schaukelte hin und her. Sie konnte es nicht genau erkennen, ihre noch recht neue Brille hatte sie auch nicht bei sich. Verflixte Eitelkeit, dabei wusste sie doch, dass sie bei Dunkelheit noch schlechter sah als im Tageslicht.
Sie nahm das widerstrebende, an den Schneehaufen am Ufer wie festgefrorene Kind an der Hand
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