Narrentod
Fassade entlang in den Hof hinunter. Dort ist Margret Murer bereits auf das Klopfsteinpflaster aufgeschlagen, direkt vor den Chinesen, und bietet jetzt ein ausgedehntes Bild grauenhafter Selbstzerstörung. Statt dass die Reisegruppe aber entsetzt aufschreit, entfährt einzelnen Teilnehmern lediglich ein schlichtes »Oh !« . Es macht fast den Anschein, als wären sie solche Szenen gewohnt.
Nicht weniger trocken der Kommentar von Hauptmann Geissbühler: »Zum Glück hat sie den Ziehbrunnen verfehlt. Sie ist so schon tief genug gefallen .«
Mir wird übel.
Geissbühler fährt ungerührt fort: »Damit können wir die Akte Fulehung wohl schließen .«
Ich wende mich ab und versuche, die öffentliche Toilette im Gefängnisgebäude zu erreichen. Zu spät. Noch vor der Plakatwand zwischen den beiden Türen übergebe ich mich. Als ich das Gröbste los bin und den Kopf etwas nach links wende, sehe ich neben mir den Stapi, vornübergeneigt, beide Hände auf die Oberschenkel gestützt, in leichter Hockstellung, meinem unrühmlichen Beispiel folgend.
Erst darauf gibt es Kommentare aus der Gruppe. Die langjährigen Bemühungen des Tourismusverantwortlichen schwimmen mit der übelriechenden Pampe den Bach runter. Was werden die weit gereisten Gäste über das Städtchen und seine zartbesaiteten Bewohner berichten?
Endlich ertönen die Sirenen von Feuerwehr und Polizei. Die Asiaten werden vom Unglücksort weggeführt. Man erspart sich offensichtlich den Übersetzer. Zudem gibt es genügend andere Augenzeugen. Hiesige. Überall werden Absperrungen aufgestellt. Spezialisten in weißen Plastiküberzügen kümmern sich um die sterblichen Überreste der unglückseligen Stadthostess. Rolf von Siebenthal und ich müssen uns für eine Befragung bereithalten. Wir steigen den Platz zum Schlossmuseum hoch und setzen uns dort unter einen Sonnenschirm. Die Kassiererin des Museums äugt besorgt aus ihrem Kabäuschen. Befürchtet sie, dass wir die nächsten beiden Todeskandidaten sein könnten, die ein Ticket lösen und den Turm erklimmen? Offenbar fühlt sie sich in der Rolle der unfreiwilligen Sterbehelferin alles andere als wohl.
Der Stapi wischt sich mit einem groß karierten Taschentuch über Augen und Mund und sagt mit einem Blick, trauriger noch als jener der hohlen Hundeaugen vom Fulehung: »Weißt du Hanspudi, mir tut Murers Adoptivsohn leid. Der ist mit dem heutigen Tag bereits zum zweiten Mal Vollwaise geworden .«
Ich nicke stumm und zwirble ratlos eine Augenbraue. Dann aber erwacht ein neuer Gedanke, und ich frage hoffnungsvoll: »Wollte nicht Jürg Lüthi längst Vater werden ?«
E N D E
Weitere Kostenlose Bücher