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Narrenturm - Roman

Narrenturm - Roman

Titel: Narrenturm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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störten, ritten Tassilo de Tresckow und Scharley. Beide sangen mit sehr viel weniger Ernst eine Liebesballade:
    Sô die bluomen ûz dem grase dringent,
    same si lachen gegen der spilden sunnen
    in einem meien an dem morgen fruo,
    Und diu kleinen vogellîn wol singent
    in ir besten wîse die si kunnen,
    waz wünne mac sich dâ gelîchen zuo?
    Hinter den Sängern ritten Samson Honig und Reynevan im Schritt. Samson lauschte, wiegte sich im Sattel und brummte vor sich hin, es war klar, dass er die Worte des Minnesängers kannte, und dass er   – hätte er nicht seine Anonymität wahren müssen   – gern in den Chor mit eingestimmt hätte. Reynevan war in Gedanken an Adele versunken. Aber es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren, denn Rymbaba und Kuno Wittram, die das Ende der Kavalkade bildeten, grölten unaufhörlich Trinklieder und derbe Liebeslieder. Ihr Repertoire schien unerschöpflich.
    Es duftete nach Rauch und Heu.
    Verbum caro, panem verum
    Verbo carnem efficit:
    Fitque sanguis Christi merum,
    Et si sensus deficit,
    Ad firmandum cor sincerum
    Sola fides sufficit.
    Die erhabene Melodie und die frommen Verse des Thomas von Aquin vermochten jedoch niemanden zu täuschen, ihr schlechter Ruf war den Rittern schon vorausgeeilt. Beim Anblick des Zuges flohen Reisig sammelnde Weiber Hals über Kopf, Mädchen im Backfischalter sprangen wie Rehe davon. Holzfäller liefen unter ihren Schlägen weg, und von Furcht ergriffene Hirten duckten sich hinter ihre Schafe. Ein Pechbrenner ließ seinen Wagen im Stich und rannte davon. Drei wandernde Minoritenbrüder lüpften ihre Kutten bis zum Po und machten sich aus dem Staube. Auch die stimmungsvollen Verse Walthers von der Vogelweide wirkten nicht im Geringsten beruhigend auf sie:
    Nû woldan, welt ir die wârheit schouwen,
    gên wir zuo des meien hôhgezîte!
    der ist mit aller sîner krefte komen.
    Seht an in und seht an schoene frouwen,
    wederz dâ daz ander überstrîte:
    daz bezzer spil, ob ich daz hân genomen.
    Samson Honig summte die Melodie vor sich hin. Meine Adele, dachte Reynevan, meine Adele. Wirklich, wenn wir endlich wieder zusammen sind, wenn die Trennung vorbei ist, dann wird es so sein, wie in dem Lied von Walther von der Vogelweide, das sie gerade singen   – dann kommt der Mai. Oder wie in anderen Strophen dieses Sängers . . .
    Rerum tanta novitas
    in sollemni vere
    et veris auctoritas
    iubet nos gaudere . . .
    »Hast du etwas gesagt, Reinmar?«
    »Nein, Samson. Ich habe nichts gesagt.«
    »Ha! Aber du hast so ein seltsames Gemurmel von dir gegeben.«
    »Aaach, der Frühling, der Frühling . . . Meine Adele ist schöner als der Frühling. Ach, Adele, Adele, wo bist du, Geliebte? Wann werde ich dich endlich wiedersehen? Deinen Mund küssen? Deine Brüste . . .«
    »Schneller! Vorwärts, schneller! Nach Münsterberg!«
    Ich möchte auch gerne wissen, dachte er plötzlich, wo wohl die blondhaarige Nicoletta steckt und was sie treibt.
    Genitori, Genitoque
    Laus et iubilatio,
    Salus, honor, virtus quoque
    Sit et benedictio . . .
    Am Ende des Zuges, versteckt hinter einer Wegbiegung, grölten Rymbaba und Wittram:
    Die Gerber warn verderbt,
    die haben den Arsch gegerbt.
    Die Schuster, wer hätt es gedacht,
    haben Schuhe draus gemacht!

Siebzehntes Kapitel
    in dem Reynevan im Raubritternest Schönau Bekanntschaften macht, isst, trinkt, abgerissene Ohren annäht und an einem Thing der streitbaren Engel teilnimmt. Bis völlig unerwartete Gäste in Schönau eintreffen.
    W as Strategie und wehrhaften Schutz betraf, war das Raubritternest Schönau äußerst günstig gelegen, es befand sich auf einer Insel, die von einem breiten, schlammreichen Arm des Weigelsdorfer Wassers geschaffen worden war. Zutritt erlangte man über eine unter Weiden und Schilf verborgene Brücke, und dieser Zugang war leicht zu verteidigen, davon zeugten Sperren, Böcke und stachelbewehrte Schragen, die, das war offensichtlich, dafür bereitlagen, im Falle eines Falles den Weg zu blockieren. Selbst im Zwielicht der anbrechenden Abenddämmerung waren weitere Befestigungsanlagen erkennbar   – Zäune und spitze Pfähle, die in das schlammige Ufer gerammt waren. An der eigentlichen Zugangsstelle war die Brücke zusätzlich mit einer dicken Kette gesichert, die aber sogleich von Knappen entfernt wurde, noch bevor Notker von Weyrach ins Horn stoßen konnte. Vermutlich hatte man sie vom Wachturm aus gesehen, der sich über einem Erlenwäldchen erhob. Sie ritten auf die Insel, der Weg führte

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