Narrenturm - Roman
hatte, winselte in Abständen. Jemand rief mit lauter Stimme nach dem Bader oder dem Juden. Oder beiden.
»Hört ihr das?« Der Grauhaarige wies mit dem Kopf in die Richtung und lächelte spöttisch. »Reichlich spät. Was ist denn da los? He! Herr Jan?«
»Otto Glaubitz hat John Schoenfeld verwundet«, stieß ein Ritter mit einem langen, dünnen Tatarenbart hervor. »Er braucht einen Arzt. Aber der ist weg. Hat sich in Luft aufgelöst, der Jude, der Schelm.«
»Wer hat sich denn gestern noch damit gebrüstet, er bringe dem Juden bei, zu essen, wie es sich gehört? Wer hat ihn denn gewaltsam mit Schweinefleisch gefüttert? Wen habe ich gebeten, den armen Teufel in Ruhe zu lassen? Wen habe ich daran erinnert? Wen?«
»Ihr hattet wie immer Recht, edler Herr von Stolberg«, gab der mit dem Tatarenbart widerwillig zu. »Aber was sollen wir jetzt machen? Schoenfeld blutet wie ein Schwein, und vom Bader sind nur seine jüdischen Instrumente zurückgeblieben . . .«
»Bringt die Instrumente her«, rief Reynevan laut und ohne nachzudenken. »Und bringt den Verwundeten her. Und Licht, mehr Licht!«
Der Verwundete, der kurz darauf panzerklirrend auf dem Tisch landete, war einer der beiden Kämpen, die ohne Helm auf dem Hof miteinander gekämpft hatten. Das Endergebnis dieses Leichtsinns war eine bis auf den Knochen aufgeschlitzte Wange und ein beinahe abgetrenntes, herabhängendes Ohr. Der Verwundete fluchte und warf sich hin und her, das Blut floss in Strömen auf die Tischbretter aus Lindenholz, besprengte den Braten und sickerte ins Brot.
Die Tasche des Medicus wurde gebracht, und im Lichte von einigen knisternden Fackeln machte Reynevan sich an die Arbeit. Er fand einen Flakon mit Rosmarinwodka und goss dessen Inhalt auf die Wunde; bei dieser Prozedur zappelte der Patient wie ein Stör und wäre fast vom Tisch gefallen, also musste man ihn festhalten. Reynevan fädelte rasch den Pechfaden in die Krummnadel und begann zu nähen, wobei er sich bemühte, möglichst gleichmäßige Stiche zu setzen. Der Patient begann fürchterlich zu fluchen, wobei er einige religiöse Lehren unflätig verdammte, der grauhaarige Markwart von Stolberg stopfte ihm daher mit einem Stück Schweinebraten das Maul. Reynevan dankte ihm mit einem Blick. Er nähte und nähte unter den neugierigen Blicken des Publikums, das den Tisch umlagerte. Mit schnellen Kopfbewegungen wehrte er die Nachtfalter ab, die die Fackeln reichlich umschwirrten, und konzentrierte sich darauf, das abgeschnittene Ohr möglichst nahe an seinem angestammten Platz zu befestigen.
Sauberes Leinen, bat er nach einiger Zeit. Sofort wurde eine der umstehenden Mägde gepackt und ihr das Hemd vom Leibgerissen, ihr Protest wurde unterdrückt, indem man ihr mehrmals eins auf Maul haute.
Sorgfältig verband Reynevan den Kopf des Verletzten mit abgetrennten Leinenstreifen. Der Verwundete fiel seltsamerweise nicht in Ohnmacht, sondern setzte sich auf, brabbelte etwas von der heiligen Lucia, wimmerte, stöhnte und drückte Reynevan die Hand. Gleich darauf machten sich auch die anderen daran, ihm die Hand zu drücken und den Medicus zu seiner guten Arbeit zu beglückwünschen. Reynevan empfing die Glückwünsche lächelnd und mit Stolz. Er wusste zwar, dass die Befestigung des Ohres nicht so verlaufen war, wie sie sollte, doch sah er auf vielen Gesichtern Narben, die weitaus schlechter vernäht worden waren. Der Verwundete stammelte etwas unter seinen Bandagen, aber niemand achtete auf ihn.
»Na wie denn? Ein Tausensassa, stimmt’s?« Nahebei nahm Scharley die Glückwünsche entgegen. »
Doctus doctor
, Teufel noch eins! Ein guter Medicus, nicht?«
»Ein guter Medicus«, stimmte der Schuldige zu, der keine Reue zeigte – es war eben jener Glaubitz mit dem Goldkarpfen im Wappen –, und reichte Reynevan einen Becher Met. »Und nüchtern ist er auch noch, das ist eine Seltenheit bei Quacksalbern. Da hat Schoenfeld Glück gehabt!«
»Er hat Glück gehabt, weil du ihm den Hieb versetzt hast, entgegnete Buko von Krossig herablassend. Wenn ich das gewesen wäre, hätte es nichts mehr zu nähen gegeben.«
Das Interesse an diesem Geschehen erfuhr plötzlich eine Unterbrechung durch die Ankunft neuer Gäste, die in den Schönauer Hof ritten. Die Raubritter redeten laut durcheinander, Aufregung herrschte, die davon zeugte, dass dies keine gewöhnlichen Gäste waren. Reynevan schaute zu, während er sich die Hände säuberte.
Der Trupp von einem guten Dutzend Bewaffneter wurde von
Weitere Kostenlose Bücher