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Narrenturm - Roman

Narrenturm - Roman

Titel: Narrenturm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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wohin er voller Hoffnung und Liebe geritten war, allen Gefahren trotzend, sein Leben riskierend. In Münsterberg hatte er nichts mehr zu suchen!
    Jetzt gibt es nirgendwo mehr etwas für mich, dachte er, während er das Gewirr von Wurzeln und Ästen betrachtete. Anstatt zu fliehen und das zu suchen, was es nicht mehr gab, wäre es da nicht besser, nach Münsterberg zurückzukehren? Eine Möglichkeit zu finden, der ungetreuen Geliebten Auge in Auge gegenüberzustehen? Ihr seine bitteren Vorwürfe und seine kalte Verachtung ins Gesicht zu schleudern? Wie jener Ritter aus der Ballade, der den Handschuh einer leichtfertigen Dame aus dem Zwinger mit Löwen und Panthern geholt und ihn ihr dann ins Gesicht geworfen hatte. Zu sehen, wie die Unwürdige erbleichte, wie sie in Verlegenheit geriet, die Hände rang, den Blick senkte, wie ihre Lippen zitterten? Ja, ja, mochte kommen, was da wollte, aber zu sehen, wie sie erbleichte, wie sie sich angesichts ihrer schändlichen Treulosigkeit schämte! Sie dazu zu bringen, dass sie litt! Dass sie Gewissensbisse empfand, Vorwürfe sie quälten . . .
    Von wegen! Sein Verstand meldete sich zu Wort. Vorwürfe? Gewissensbisse? Du Dummkopf! Sie wird dich auslachen, dich abermals fesseln und ins Gefängnis werfen lassen. Und sie wird zu Herzog Johann gehen, beide werden miteinander ins Bett steigen, werden sich lieben, ach was, werden so gierig übereinander herfallen, dass das Lager erzittert. Und es wird weder Vorwürfe noch Gewissensbisse geben. Sie werden sichbestens amüsieren, denn sie werden ihr Liebesspiel mit dem Spott über den Einfaltspinsel Reinmar von Bielau verschönern.
    Der Verstand, stellte Reynevan fest, ohne sich auch nur im Mindesten zu wundern, hatte eine Stimme wie Scharley.
    Heinrich Hackeborns Pferd wieherte und schüttelte heftig den Kopf. Scharley, dachte Reynevan und klopfte ihm den Hals, Scharley und Samson. Sie sind in Münsterberg geblieben. Ob sie noch dort waren? Wahrscheinlich hatten sie sich gleich nach seiner Gefangennahme auf den Weg nach Ungarn gemacht, froh, dass sie nun endlich alle Sorgen loswaren. Scharley hatte zwar vor kurzem noch die Freundschaft gepriesen, sie sei eine großartige und schöne Sache, hatte er laut verkündet. Aber zuvor, und das klang aufrichtiger, ehrlicher, und irgendwie lag auch weniger Spott darin, hatte er erklärt, für ihn zähle nur die eigene Bequemlichkeit, das eigene Wohl, das eigene Glück, und den Rest könne der Teufel holen. Das hatte er gesagt, und alles in allem . . .
    Alles in allem wundere ich mich immer seltener über ihn.
    Hackeborns Kastilianer wieherte erneut. Und ein Wiehern antwortete ihm.
    Reynevan hob den Kopf, gerade noch rechtzeitig, um am Waldrand einen Reiter zu erblicken.
    Eine Amazone.
    Nicoletta, dachte er erstaunt, die blondhaarige Nicoletta! Eine Grauschimmelstute, ein heller Zopf, ein grauer Kapuzenmantel. Das ist sie, zweifellos!
    Nicoletta hatte ihn fast im selben Moment erblickt. Aber wider Erwarten winkte sie ihm nicht, grüßte ihn auch nicht laut und fröhlich. Im Gegenteil. Sie wendete das Pferd und ergriff die Flucht. Reynevan überlegte nicht lange. Genauer gesagt, er dachte nicht eine Sekunde lang nach.
    Er riss den Kastilianer herum und folgte ihr, am Windbruch entlang. Im Galopp. Die entwurzelten Bäume waren eine Gefahr für die Beine des Pferdes und den Hals des Reiters, aberwie gesagt, Reynevan machte sich darüber keine Gedanken. Das Pferd auch nicht.
    Als er bei den Kiefern den Wald erreichte, wusste er bereits, dass er sich geirrt hatte. Zum einen war der Grauschimmel nicht jene temperamentvolle, leichtfüßige Stute, die er kannte, sondern eine knochige, plumpe Mähre, die schwerfällig und betulich durch den Farn galoppierte. Und das Mädchen, das auf dieser Mähre saß, konnte keinesfalls die blondhaarige Nicoletta sein. Die kühne, resolute Nicoletta   – Katharina von Biberstein, verbesserte er sich selbst   – würde erstens nicht in einem Damensattel sitzen. Und zweitens würde sie sich darauf nicht so zusammenkrümmen und sich auch nicht angstvoll umblicken. Und sie würde nicht so entsetzt kreischen. Bestimmt würde sie nicht so kreischen.
    Als er endlich zu der Einsicht gelangte, dass er wie ein Verrückter oder wie ein Sittenstrolch einem fremden Mädchen durch den Wald hinterherjagte, war es schon zu spät. Die Amazone hatte unter Hufgetrappel und Geplärr eine Lichtung erreicht, Reynevan folgte gleich darauf. Er wollte anhalten, aber das widerspenstige Ross des

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