Narrenturm - Roman
haben. Die Gegenstände, auf denen man sitzt, sei es ein Besen, ein Schürhaken, eine Schaufel oder was auch immer, sind lediglich Dinge, die unbelebte Materie ist dem Willen des Magiers unterworfen und vollkommen abhängig von diesem Willen.
Es musste in der Tat etwas daran sein, denn die Bank, die Reynevan und Nicoletta trug und die sich bis zur Höhe der Turmzinnen von Schloss Bodak emporgeschwungen hatte, umkreiste diese so lange, bis Reynevan sah, dass zwei Reiter das Schloss verließen, von denen einer zweifelsohne von riesiger Gestalt war. Die Bank folgte ihnen wie von ungefähr, als wolle sie ihn beruhigen, dass keiner der beiden auf dem Weg nach Glatz dahinjagenden Reiter ernsthaft verletzt und kein Verfolger hinter ihnen her war. Und als spüre sie tatsächlich seine Erleichterung, zog sie noch eine Schleife um Bodak, dann stieg sie hoch in den Himmel, über die mondlichtübergossenen Wolken.
Wie sich bald erwies, hatte aber auch Huon von Sagar Recht, der behauptet hatte, dass alle Theorie grau sei, denn die Darlegungen jenes Prager Gelehrten über die mentale Kontrolleentsprachen nur in begrenzter Weise der Realität. Und zwar in ziemlich begrenzter. Nachdem sich Reynevan davon überzeugt hatte, dass Scharley und Samson in Sicherheit waren, hörte die fliegende Bank sofort auf, seinem Willen zu entsprechen. Denn es war gewiss nicht Reynevans Wille, so hoch zu fliegen, dass man nach dem Mond nur noch die Hand ausstrecken musste, und die Kälte war so groß, dass seine und Nicolettas Zähne klapperten wie Kastagnetten. Auch lag es Reynevans Willen völlig fern, wie ein Bussard auf der Jagd Kreise zu ziehen. Er wollte Scharley und Samson folgen – aber genau dies schätzte die fliegende Bank nicht.
Reynevan verspürte nicht die geringste Lust, die Topographie Schlesiens aus der Vogelperspektive zu studieren, und es war nicht zu ersehen, wodurch und unter wessen mentaler Kontrolle stehend das Möbel seine Flughöhe verringerte und in nordöstlicher Richtung über dem Reichensteiner Gebirge dahinsegelte. Sobald sie auf der rechten Seite das Massiv des Jauersberges und der Heidelkoppe hinter sich gelassen hatte, flog die Bank über eine Burg, die von einer doppelten Mauer mit aufragenden Basteien umgeben war, eine Burg, die nur Pohldorf sein konnte. Dann trug sie sie durch das Tal eines Flusses, der nur die Neiße sein konnte. Kurz darauf schoben sich unter ihnen die Dächer der Türme des Bischofssitzes Ottmachau vorbei. Hier jedoch änderte die Bank ihre Route, beschrieb einen großen Bogen, kehrte zur Neiße zurück und flog diesmal flussaufwärts, dem sich windenden, im Mondschein silbern glänzenden Band folgend. Einen Moment lang klopfte Reynevans Herz in schnellerem Rhythmus, denn es schien, als wolle die Bank nach Bodak zurückkehren. Aber nein, sie wendete plötzlich und flog nach Norden, glitt über die Ebene dahin. Bald darauf huschte unter ihnen der Gebäudekomplex des Klosters von Kamenz vorbei, und Reynevan überkam erneut die Unruhe. Schließlich hatte auch Nicoletta sich mit der Flugsalbe eingerieben und konnte mit ihrem starken Willen ebenfalls die Bank beeinflussen. Sie könnten – dieRichtung schien darauf hinzudeuten – geradewegs auf dem Weg nach Stolz, dem Sitz der Bibersteins, sein. Reynevan bezweifelte, dass man ihn dort freundlich empfangen würde.
Die Bank wandte sich nun aber etwas nach Westen. Unter ihnen breitete sich eine Stadt aus, aber Reynevan hatte die Orientierung verloren, er konnte die Gegend nicht mehr erkennen, die da vor seinen vom Wind tränenden Augen lag.
Die Höhe, in der sie sich bewegten, war nun etwas geringer, so dass die beiden Luftfahrer nicht mehr zitterten und mit den Zähnen klapperten. Die Bank hielt ein gleichmäßig flottes Tempo, ohne akrobatische Übungen auszuführen, so dass sich auch Nicolettas Fingernägel nicht mehr in Reynevans Hände gruben, das Mädchen, das spürte er deutlich, entspannte sich etwas. Auch er selbst, das wollen wir nicht verhehlen, schöpfte erleichtert Luft, weder der Luftzug noch das Adrenalin nahmen ihm mehr den Atem.
Sie sausten unter den Wolken dahin, die der Mond beleuchtete. Unter ihnen erstreckte sich ein Schachbrettmuster aus Wäldern und Feldern.
»Aucassin . . .«, sie übertönte den Wind, »weißt du . . . wohin . . .«
Er presste sie stärker an seine Brust, weil er wusste, dass sie dies erwartete.
»Nein, Nicoletta. Ich weiß es nicht.«
Er wusste es nicht. Aber in ihm stieg ein Verdacht auf.
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