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Narrenturm - Roman

Narrenturm - Roman

Titel: Narrenturm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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auf dem Boden zu sitzen und starrte schaudernd dem Tod ins Auge   – dieser war bleich wie ein Aussätziger, hatte wilde Augen und Blut und Schaum vor dem Mund. Mit beiden Händen hielt Reynevan die Armbrust umklammert, wie um sich zu schützen.
    »Adsumus! Adsum . . .«
    Halb liegend, halb sitzend löste Dzierżka de Wirsing den Bolzen und jagte ihn ihm direkt in den Hinterkopf. Der Ritter ließ den Morgenstern fallen, fuchtelte wirr mit den Armen undfiel wie ein Klotz zu Boden, dass der Boden spürbar wankte. Noch einige Augenblicke lang röchelte er, erschauerte und krallte sich in das Gras. Schließlich blieb er regungslos liegen.
    Dzierżka kniete längere Zeit, gestützt auf ihre ausgestreckten Arme. Dann übergab sie sich heftig. Danach stand sie auf. Sie spannte die Armbrust erneut und legte einen Bolzen ein. Sie ging zu dem röchelnden Pferd des Ritters und zielte aus nächster Nähe. Die Sehne schwirrte, der Kopf des Tieres sank hinab, die Hinterbeine zuckten in Krämpfen.
    »Ich liebe Pferde«, sagte sie und blickte Reynevan in die Augen, »aber auf dieser Welt muss man manchmal das opfern, was man liebt, um zu überleben. Merk dir das, mein Anverwandter. Und ein andermal ziele auf das, was ich dir sage.«
    Er nickte nur und stand auf.
    »Du hast mir das Leben gerettet. Und deinen Bruder gerächt. Zum Teil wenigstens.«
    »Sie haben . . . Diese Reiter . . . haben Peterlin erschlagen?«
    »Ja, sie. Hast du das nicht gewusst? Aber wir haben keine Zeit für dummes Gerede, Vetter. Wir müssen verschwinden, bevor uns seine Gefährten hier überraschen.«
    »Sie haben mich bis hierher gejagt . . .«
    »Nicht dich«, widersprach ihm Dzierżka gleichmütig. »Mich. Sie haben mich gleich hinter Wartha aus einem Hinterhalt überfallen. Sie haben die Herde zerstreut, meine Eskorte auseinander gesprengt, vierzehn Leichen liegen dort auf dem Weg. Ich läge auch längst dort, wenn nicht . . . Wir schwatzen zu viel!«
    Sie steckte die Finger in den Mund und pfiff. Nach einer Weile erklang Hufgetrappel, und aus dem Nebel tauchte die Apfelschimmelstute auf. Dzierżka sprang in den Sattel und verblüffte Reynevan wiederum mit ihrer Grazie und Gewandtheit.
    »Was stehst du noch da?«
    Er ergriff ihre Hand und schwang sich hinter ihr auf die Stute. Die Stute schnaubte und tänzelte, den Kopf wendend, wich sie vor der Leiche zurück.
    »Wer war das?«
    »Ein Dämon«, antwortete sie und strich sich die ungebärdigen Haare aus der Stirn. »Einer von denen, die in der Dunkelheit wandeln. Ich bin bloß neugierig, verdammt, wer mich verraten hat . . .«
    »Hasch’aschin.«
    »Was?«
    »Hasch’aschin«, wiederholte er. »Der hier stand unter dem Einfluss einer betäubenden arabischen Kräuersubstanz, die
hasch’isch
genannt wird. Hast du nie vom Alten vom Berge gehört? Von den Assassinen in der Zitadelle Alamūt? In Chorasan, in Persien?«
    »Zum Teufel mit deinem Chorasan«, sie wandte sich im Sattel um, und mit deinem Persien! »Wir sind, falls sich das noch nicht bis zu dir herumgesprochen hat, in Schlesien, am Fuße des Erbsberges, eine Meile von Frankenstein entfernt. Du kommst von den Hängen des Erbsberges, im Morgengrauen nach der Herbstgleiche. Weiß der Teufel, unter dem Einfluss welcher arabischen Substanzen. Aber dass der Tod uns droht, solltest du wenigstens begreifen. Sei endlich still und halt dich fest, denn ich werde scharf reiten!«
     
    Dzierżka de Wirsing hatte übertrieben   – die Furcht hatte, wie immer, tausend Augen. Auf dem Weg und dem mit Unkraut bewachsenen Wegesrand lagen nur acht Tote, von denen fünf zu der bewaffneten Eskorte gehörte, die sich bis zuletzt verteidigt hatte. Fast die Hälfte der vierzehnköpfigen Mannschaft hatte überlebt und war in die umliegenden Wälder geflohen. Von ihnen kehrte nur einer zurück   – ein junger Stallbursche, der nicht sehr weit geflohen war. Und den jetzt, als die Sonne höher stieg, die Ritter, die von Frankenstein dahergeritten kamen, im Gebüsch entdeckten.
    Die Ritter   – ihr Tross zählte mit Knappen und Knechten einundzwanzig Leute   – waren für den Kriegszug ausgestattet, in voller Rüstung, mit wehenden Wimpeln. Die meisten von ihnenwaren im Kampfe erfahren, hatten im Leben so manches gesehen. Dennoch schluckten sie, als sie die schrecklich zugerichteten Körper sahen, die dort hingemäht auf dem Sande lagen, der sich vom Blute schwarz gefärbt hatte. Und keiner spottete über die Leichenblässe, die bei diesem Anblick die Gesichter der

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