Narrenturm - Roman
gegenseitig helfen, stirbt auch noch der Rest von uns aus.«
»Danke.«
»Ich habe nicht dich damit gemeint«, spottete die Quitte.
Sie betraten eine Schlucht, den Lauf eines ausgetrockneten Baches, der von Weiden umstanden war. Aus dem Nebel vor ihnen war ein leises Fluchen zu vernehmen. Kurz darauf bemerkten sie eine Frau, die auf einem moosbewachsenen Felsen saß und Steine aus ihren Schnabelschuhen schüttelte. Reynevan erkannte sie sofort. Das war die rundliche Müllerin, die immer noch mit Mehlspuren bedeckt war, eine weitere Teilnehmerin der Debatte am Cidrefässchen.
»Das Mädchen?« Sie überlegte ein Weilchen. »Diese Blondhaarige? Aaach, das Edelfräulein, das bei dir war, Toledo? Die habe ich gesehen, na klar. Hier entlang ist sie gegangen. Nach Frankenstein. In einer Gruppe, sie waren zu mehreren. Vor einiger Zeit.«
»Hier entlang sind sie gegangen?«
»Hier entlang. Halt, halt, wartet. Ich gehe mit euch.«
»Weil du dort etwas zu tun hast?«
»Nein. Weil ich dort wohne.«
Die Müllerin war, gelinde gesagt, nicht in der allerbesten Verfassung. Sie trödelte herum, rülpste, brummte und zog die Beine nach. Enervierend oft blieb sie stehen, um ihre Garderobe zurechtzurücken. Auf unerklärliche Weise gelangte immer wieder Kies in ihre Schuhe, dann musste sie sich setzen und sie ausschütteln – und auch das tat sie aufreizend langsam. Beim dritten Mal war Reynevan schon willens, das Weib huckepack zu tragen, nur um schneller voranzukommen.
»Vielleicht geht’s ein wenig schneller, Gevatterin?«, fragte der Alp süßlich.
»Selber Gevatterin«, gab die Müllerin schlagfertig zurück. »Gleich bin ich so weit. Nur noch . . . Ein Momentchen . . .«
Sie erstarrte mit dem Schuh in der Hand. Sie hob den Kopf. Sie lauschte.
»Was ist?«, fragte die Quitte. »Was . . .«
»Still . . .«, der Alp hob die Hand. »Ich höre etwas. Etwas . . . Es kommt etwas . . .«
Die Erde erbebte plötzlich und dröhnte. Aus dem Nebel lösten sich Pferde, eine ganze Herde, plötzlich wimmelte es um sie herum von trommelnden, die Erde aufwühlenden Hufen, von wehenden Mähnen und Schweifen, gebleckten Zähnen in schäumenden Mäulern und rollenden Augen. Sie schafften es gerade noch, sich auf die Felsen zu retten. Die Pferde rasten in wildem Galopp vorüber, verschwanden genauso plötzlich, wie sie gekommen waren. Nur die Erde schwankte immer noch unter dem Hufschlag.
Bevor sie sich noch davon erholen konnten, tauchte aus dem Nebel ein weiteres Pferd auf. Aber dieses trug im Unterschied zu den vorigen einen Reiter. Einen Reiter in voller Rüstung mit einem schwarzen Mantel. Der Mantel bauschte sich im Galopp an den Schultern, er sah aus wie die Flügel eines Gespenstes.
»Adsumus! Adsuuumuuuus!«
Der Ritter zog die Zügel an, das Pferd stellte sich auf die Hinterhand, wirbelte mit den Vorderhufen in der Luft herum und wieherte. Der Ritter aber zog sein Schwert und stürzte sich auf sie.
Die Quitte gab einen dünnen Schrei von sich, aber noch bevor der Schrei verklungen war, zerfiel sie – ja, das war das richtige Wort – in eine Unzahl von Nachtfaltern, die in einer Wolke in die Luft stoben und verschwanden. Die Hamadryade wuchs, ohne einen Laut von sich zu geben, in der Erde fest, im nächsten Moment war sie hoch aufgeschossen und mit Rinde und Blättern bedeckt. Die Müllerin und der Alp, die offensichtlich keine ähnlich erfinderischen Tricks auf Lager hatten, liefen ganz einfach davon. Reynevan verständlicherweise auch, ihnen nach. So schnell, dass er sie überholte. Sogar hier haben sie mich gefunden, dachte er fieberhaft. Sogar hier haben sie mich gefunden.
»Adsumus!«
Der schwarze Ritter hieb im Vorbeireiten mit dem Schwert auf die Hamadryade ein, das Bäumchen schrie entsetzlich und verspritzte Saft. Die Müllerin sah sich um, das war ihr Verderben. Der Ritter überrannte sie mit dem Pferd, als sie versuchte aufzustehen, neigte er sich aus dem Sattel und schlug mit dem Schwert so fest zu, dass der Schädelknochen knirschte. Die Hexe fiel zu Boden, zappelte und wand sich auf dem trockenen Gras.
Der Alp und Reynevan rannten, was die Beine hergaben, aber gegen das galoppierende Pferd hatten sie keine Chance. Der Ritter holte sie rasch ein. Sie trennten sich, der Alp rannte nach rechts, Reynevan nach links. Der Ritter folgte dem Alp. Nach einer Weile stieg ein Schrei aus dem Nebel empor und zeugte davon, dass es dem Alp wohl nicht vergönnt war, die Veränderungen und die böhmischen
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