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Narrenturm - Roman

Narrenturm - Roman

Titel: Narrenturm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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als Nachbarn nebeneinander, die, welche Ironie, auch draußen, in der Freiheit, Nachbarn waren. Beide stritten ab, verrückt zu sein, beide hielten sich für Opfer perfider Intrigen. Der eine, ein Stadtschreiber, den die Wächter des göttlichen Grabes bei seiner Ankunft Bonaventura getauft hatten, gab seiner Ehefrau, die froh darüber war, es jetzt ungehindert mit ihrem Liebhaber treiben zu können, die Schuld für seine Haft. Bonaventura hatte Reynevan und Scharley gleich zu Beginn mit einem langen Sermon über Frauen beglückt, die von Geburt an und ihrer Natur entsprechend gemein, heuchlerisch, lüstern, unzüchtig, nichtswürdig und verräterisch seien. Dieser Sermon weckte in Reynevan düstere Erinnerungen, und er versank für längere Zeit in tiefster Melancholie.
    Der andere Nachbar wurde von Reynevan mit der Bezeichnung Institor bedacht, weil er sich immerfort und laut jammernd um sein
institorium,
seinen stattlichen und Gewinn einbringenden Kramladen am Markt sorgte. Seine eigenen Kinder, behauptete er, hätten ihn denunziert und um die Freiheit gebracht, damit sie den Kramladen und den damit erzielten Gewinn an sich reißen konnten. Wie Bonaventura stand der Institor zu seinen wissenschaftlichen Interessen   – beide beschäftigten sich als Amateure mit Astrologie und Alchemie. Beide verstummten beim Klang des Wortes »Inquisition«.
    Nicht weit entfernt von ihnen, unter der Aufschrift ARSCH, hatte ein weiterer Bürger Frankensteins sein Lager, der seinenNamen Nikolaus Koppirnig, Freimaurer der Loge dieses Ortes und Amateur-Astronom, nicht verschwieg, leider war er ein wenig gesprächiger, brummiger und ungeselliger Patron.
    Ganz in der Nähe, an der Wand, nicht sehr weit von der Enklave der Wissenschaftler entfernt, saß der bereits früher erwähnte Circulos Meos, kurz genannt Circulos. Er saß da und scharrte Stroh zusammen, an einen Pelikan im Nest erinnernd, ein Eindruck, der durch seinen kahlen Kopf und einen gewaltigen Kropf noch verstärkt wurde. Sein scheußlicher Gestank, seine spiegelnde Glatze und sein ständiges Kreidegekratze an der Wand oder am Gewölbe zeugten davon, dass er noch unter den Lebenden weilte. Es stellte sich heraus, dass er nicht wie Archimedes Mechaniker war, die Skizzen und Figuren dienten anderen Zielen. Derentwillen man Circulos ins Irrenhaus verfrachtet hatte.
    Neben dem Lager von Jesaja, einem jungen, apathischen Menschen, der so genannt wurde, weil er, wo auch immer er sich befand, aus dem Buch des Propheten zitierte, stand ein schaudererregender eiserner Käfig, der als Karzer diente. Der Käfig war leer, und Thomas Alpha, der am längsten einsaß, hatte noch nie gesehen, dass man jemanden dort hineingesperrt hätte. Bruder Tranquilus, der die Aufsicht über den Narrenturm führte, sei in Wirklichkeit ein ruhiger und äußerst verständnisvoller Mönch. Natürlich nur, solange er nicht von jemandem gereizt werde.
    Der sich als Normaler ausgab, der weiterhin alle ignorierte, war auch derjenige, der bald schon Bruder Tranquilus »reizen« sollte. Während des Morgengebetes gab sich der Normale nämlich seiner Lieblingsbeschäftigung hin   – dem Spiel mit seinem Glied. Das entging den Falkenaugen des Bruders vom Heiligen Grabe nicht, und der Normale bekam eine ordentliche Tracht Prügel mit dem Eichenknüppel, den, wie sich zeigte, Tranquilus nicht nur bei sich hatte, wenn er die Parade abnahm.
    Die Tage vergingen, unterteilt durch den langweiligen Rhythmusder Mahlzeiten und der Gebete. Die Nächte vergingen. Letztere waren eine Qual, sowohl wegen der schrecklichen Kälte wie auch wegen des geradezu alptraumhaften Schnarchkonzerts der Pensionäre. Die Tage ließen sich leichter ertragen. Da konnte man wenigstens reden.
     
    »Aus Bosheit und Neid«, Circulos schüttelte seinen Kropf und blinzelte mit eitrigen Augen. »Ich sitze hier infolge menschlicher Bosheit und des Neides von unfähigen Kollegen. Sie haben mich gehasst, weil mir gelungen ist, was sie nicht geschafft haben.«
    »Zum Beispiel?« Scharley zeigte sich interessiert.
    »Ach, weshalb sollte ich«, Circulos wischte seine kreidebeschmutzten Hände an seinem Gewand ab, »weshalb sollte ich euch Außenstehenden das erklären, ihr versteht es doch sowieso nicht.«
    »Versuch es doch.«
    »Na, wenn ihr unbedingt wollt . . .« Circulos räusperte sich, bohrte in der Nase und rieb eine Ferse an der anderen. »Mir ist etwas Großes gelungen. Ich habe das Datum des Weltunterganges präzis berechnet.«
    »Etwa auf

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