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Narrenturm - Roman

Narrenturm - Roman

Titel: Narrenturm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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aus wie einen Schleier und breitet ihn aus wie ein Zelt, in dem man wohnt.«
    »Na bitte.« Koppirnig nickte. »Dumm, aber er weiß es.«
    »Eben.«
    »Was, eben?« Koppirnig fuhr verärgert auf. »Was eben? Seid Ihr so klug? Ich widerrufe alles. Wenn sie mich nur herauslassen, bestätige ich ihnen alles, was sie wollen. Dass die Erde flach ist, dass ihr geometrisches Zentrum Jerusalem ist. Dass die Sonne Kreise um den Papst beschreibt, der der Mittelpunkt des Universums ist. Ich gestehe alles. Vielleicht haben sie ja auch Recht? Verdammt noch mal, ihre Institutionen bestehen seit fast anderthalbtausend Jahren. Schon allein deshalb können sie sich nicht irren.«
    »Seit wann kommen Daten gegen Dummheit an?« Scharley zwinkerte.
    »Ach, zum Teufel mit euch!« Der Freimaurer wurde wütend. »Geht doch selber auf die Folterbank und auf den Scheiterhaufen! Ich widerrufe alles! Ich sage: Und sie bewegt sich NICHT,
eppur NON si muove!
«
    »Was kann ich denn schon wissen«, sagte er nach einer Weile verbittert. »Was bin ich denn schon für ein Astronom? Ich bin ein einfacher Mann.«
    »Glaubt ihm nicht, Herr Scharley«, ließ sich Bonaventura vernehmen, der gerade aus einem Schläfchen erwacht war. »Dies sagte er nur, weil er Angst hat vor dem Scheiterhaufen. Aber was für ein Astronom er ist, das wissen alle in Frankenstein, denn jede Nacht sitzt er mit dem Astrolabium auf dem Dach und zählt die Sterne. Und nicht nur er, bei denen sind alle solche Sterngucker, bei den Koppirnigs. Sogar der Jüngste, der kleine Nikolaus. Die Leute lachen drüber, dass sein erstes Wort ›Mama‹ war, sein zweites ›Papi‹ und sein drittes ›Heliozinntrismus‹.«
     
    Je eher die Dämmerung hereinbrach, je kälter es wurde, desto mehr Pensionäre fanden sich zu Konversation und Disput zusammen. Man redete und redete und redete. Zuerst alle zusammen, dann jeder für sich.
    »Sie machen mir mein
institorium
kaputt. Alles vertun sie, alles lassen sie zum Teufel gehen, bringen es durch. Sie verschleudern mein bisschen Vermögen. Diese Jugend von heute!«
    »Alle Weibsbilder, eine wie die andere, sind Huren. Weil sie’s tun, oder weil sie’s denken.«
    »Die Apokalypse kommt, nichts bleibt. Überhaupt nichts. Aber warum soll ich euch Außenstehenden das erklären.«
    »Und ich sage euch, es kommt früher über uns. Der Inquisitor kommt. Erst foltern sie, dann verbrennen sie. Und recht geschieht uns Sündern, denn wir haben vor Gott gefrevelt.«
    »Darum, wie des Feuers Flamme Stroh verzehrt und Stoppeln vergehen in der Flamme, so wird ihre Wurzel verfaulen und ihre Blüte auffliegen wie Staub. Denn sie verachten die Weisung des Herrn Zebaot . . .«
    »Hört ihr? Ein Verrückter, aber er weiß es.«
    »Eben.«
    »Das Problem liegt darin«, meinte Koppirnig nachdenklich, »dass wir zu viel gedacht haben.«
    »Oh, das ist es«, bekräftigte Thomas Alpha. »Deswegen werden wir der Strafe nicht entgehen.«
    ». . . dass sie gesammelt werden als Gefangene im Gefängnis und verschlossen werden im Kerker und nach langer Zeit heimgesucht werden.«
    »Hört ihr? Ein Verrückter, aber er weiß es.«
    An der Wand, weiter entfernt, brabbelten und grummelten diejenigen, die an
dementia
oder
debilitas
litten. Nebenan holte sich der Normale auf seinem Lager unter Ächzen und Stöhnen einen herunter.
     
    Im Oktober wurde die Kälte noch größer. In dieser Zeit, am sechzehnten Tag   – ein Kalender, den Scharley mit einem von Circulos stibitzten Stückchen Kreide führte, ließ diese Berechnung zu   – traf ein Bekannter im Narrenturm ein.
     
    Den Bekannten schleiften nicht die Brüder des Heiligen Grabes in den Turm, sondern Bewaffnete in Panzerhemden und Brigantinen. Er wehrte sich, also erhielt er ein paar Schläge in den Nacken, und man warf ihn die Treppe hinunter. Er sauste herab und blieb unten auf dem Boden liegen. Die Pensionäre, unter ihnen auch Reynevan und Scharley, betrachteten ihn, als er so dalag. Sahen, wie Bruder Tranquilus mit seinem Knüppel zu ihm hinging.
    »Heute«, sagte er, nachdem er ihn zuerst wie gewöhnlich im Namen der heiligen Dymphna, der Patronin und Fürsprecherin der Geisteskranken, begrüßt hatte, »heute ist der Tag des heiligen Gallus. Aber da wir hier schon Galli über Galli hatten, wollen wir uns doch nicht wiederholen . . . Wir gedenken heute auch des heiligen Mummolinus. Du, Bruder, wirst Mummolinus heißen. Klar?«
    Der auf dem Fußboden Liegende stützte sich auf die Ellenbogen und blickte den Bruder

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