Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Narrenturm - Roman

Narrenturm - Roman

Titel: Narrenturm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
Vom Netzwerk:
das Jahr 1420?«, fragte Scharley, nachdem er einem Moment lang höflich geschwiegen hatte. »Im Monat Februar, am Montag, der auf den Festtag der heiligen Scholastica folgt? Das ist nicht gerade originell, das muss ich schon sagen.«
    »Ihr beleidigt mich.« Circulos schob die Reste seines Bäuchleins nach vorn. »Ich bin keiner von den enttäuschten Millenaristen, kein ungebildeter Mystiker, ich plappere nicht einfach das Geschwätz der Chiliasten nach, wie die Fanatiker es tun. Ich habe die Sache
sine ira et studio
untersucht, auf der Grundlage wissenschaftlicher Quellen und mathematischer Berechnungen. Kennt ihr die Offenbarung des Johannes?«
    »Oberflächlich, aber immerhin.«
    »Das Lamm hat sieben Siegel geöffnet, stimmt’s? Und Johannes hat sieben Engel gesehen, stimmt’s?«
    »Absolut.«
    »Und der Auserwählten und Gezeichneten waren es hundertvierundvierzigtausend, stimmst’s? Und der Ältesten vierundzwanzig, stimmt’s? Wenn man das alles zusammenzählt und die Summe mit acht malnimmt, der Anzahl der Buchstaben im Wort »Apollyon«, dann berechnet man . . . Ach, was soll ich euch das erklären, ihr versteht es ja doch nicht. Das Ende der Welt kommt im Juli. Genau am sechsten Juli,
in octava Apostolorum Petri et Pauli.
Am Freitag. Zur Mittagsstunde.«
    »Welchen Jahres?«
    »Dieses Jahres, des heiligen Jahres. 1425.«
    »Jaaa«, Scharley rieb seinen Bart, »seht Ihr, es gibt da nur eine kleine Schwierigkeit . . .«
    »Welche denn?«
    »Wir haben September.«
    »Das ist kein Beweis.«
    »Und es ist Nachmittag.«
    Circulos zuckte mit den Achseln, dann wandte er sich ab und vergrub demonstrativ seinen Kopf im Stroh.
    »Ich hab’s gewusst«, schnaubte er, »es hat keinen Zweck, mit Dummköpfen zu reden. Adieu.«
     
    Nikolaus Koppirnig, der Freimaurer aus Frankenstein, war nicht gerade gesprächig, dennoch schreckten weder seine Grobheit noch seine Bärbeißigkeit den nach Konversation lechzenden Scharley ab.
    »So«, der Demerit gab nicht auf, »Ihr seid also Astronom. Und man hat Euch ins Kittchen gesperrt. Tja, es erweist sich wohl als richtig, dass sich eine allzu gründliche Himmelsbetrachtung nicht lohnt und sich für einen guten Katholiken auch nicht ziemt. Aber ich, werter Herr, zähle zwei und zwei noch auf etwas andere Weise zusammen. Die Konjunktion zwischen der Astronomie und dem Gefängnis kann nur eines bedeuten: die Erschütterung der ptolemäischen Theorie. Habe ich Recht?«
    »Recht worin?«, brummte Koppirnig. »Was die Konjunktionen anbelangt? Habt Ihr, und wie. Was den Rest betrifft, auch. Ich merke schon, Ihr seid einer von denen, die immer Recht haben. Solche habe ich schon gesehen.«
    »Einen solchen gewiss noch nicht!« Der Demerit lachte. »Aber das ist nicht so wichtig. Wichtiger ist, wie ist das, Eurer Auffassung nach, mit diesem Ptolemäus? Was befindet sich im Zentrum des Alls? Die Erde? Oder die Sonne?«
    Koppirnig schwieg lange.
    »Ach, soll doch sein, was da mag«, sagte er schließlich verbittert. »Woher soll ich das wissen? Was bin ich denn schon für ein Astronom, wie soll ich mich denn da auskennen? Ich widerrufe alles, ich bekenne alles. Ich sage, was sie mir befehlen.«
    »Aha.« Scharley strahlte. »Ich habe also ins Schwarze getroffen! Die Astronomie ist mit der Theologie zusammengestoßen? Und sie haben gedroht?«
    »Wie denn das?«, wunderte sich Reynevan. »Die Astronomie ist eine Naturwissenschaft. Was hat die Theologie damit zu schaffen? Zwei und zwei sind immer noch vier . . .«
    »Das habe ich auch geglaubt«, unterbrach ihn Koppirnig finster, »aber die Wirklichkeit ist eine andere.«
    »Ich verstehe nicht.«
    »Reinmar, Reinmar«, Scharley lächelte mitleidig, »du bist so naiv wie ein Kind. Wenn du zwei und zwei zusammenzählst, ist das nicht gegen die Schrift gerichtet, von den Bewegungen der Himmelskörper kann man das allerdings nicht sagen. Man kann nicht beweisen, dass sich die Erde um eine unbewegliche Sonne dreht, wenn in der Schrift steht, dass Josua der Sonne befohlen hat, still zu stehen. Der Sonne. Nicht der Erde. Deshalb . . .«
    »Deshalb«, unterbrach ihn der Freimaurer, noch missmutiger dreinsehend, »muss man seinem Selbsterhaltungstrieb folgen. Das Astrolabium und das Fernrohr können sich im Hinblick auf die Himmel irren, die Bibel kann sich nicht irren. Die Himmel . . .«
    »Er thront über dem Kreis der Erde«, fiel ihm da Jesaja ins Wort, den der Klang des Wortes »Bibel« aus seiner Apathie gerissen hatte. »Er spannt den Himmel

Weitere Kostenlose Bücher