Narrenturm - Roman
wieder schloss. Dieses Echo war in dem steinernen Brunnen kaum verklungen, als Scharley auch schon aufstand.
»Na, ihr Brüder in der Not«, sagte er fröhlich, »seid gegrüßt, wer auch immer ihr sein mögt. Es scheint, dass wir wohl einige Zeit hier miteinander zubringen werden. Gefangen zwar, aber immerhin. Vielleicht sollten wir uns da gegenseitig kennen lernen?«
Ähnlich wie eine Stunde zuvor antworteten ihm Strohgeraschel, Lachen, leises Fluchen und etliche andere Worte und Laute, zumeist unanständige. Scharley ließ sich davon aber nicht entmutigen. Entschlossen ging er zu einem der Lager aus Stroh, von denen ein gutes Dutzend an den Wänden des Turmes und an den eingestürzten Säulen und Arkaden, die den Boden unterteilten, aufgeschüttet war. Die Dunkelheit wurde nur schwach von dem Licht durchdrungen, das ganz oben durch die kleinen Fenster drang. Aber das Auge hatte sich schon daran gewöhnt, und so war dieses und jenes zu erkennen.
»Guten Tag! Ich bin Scharley!«
»Ach, hau doch ab«, brummte der Mensch auf dem Strohlager zurück. »Halt dich an die, die dir ähnlich sind, du Verrückter. Ich bin geistig vollkommen gesund! Normal!«
Reynevan öffnete den Mund, schloss ihn schnell wieder und öffnete ihn erneut. Er sah nämlich, womit der, der als normal gelten wollte, sich befasste – mit einer energischen Manipulation seiner Genitalien. Scharley räusperte sich, zuckte die Achseln und ging weiter zum nächsten Lager. Der Mensch, der darauf lag, rührte sich nicht, abgesehen von einem leichten Zittern und seltsamen Zuckungen in seinem Gesicht.
»Guten Tag! Ich bin Scharley . . .«
»Bbb . . . bbuub . . . ble-bleee . . . Bleee . . .«
»Das hab ich mir gedacht. Lass uns weweweitergehen, Reinmar. Guten Tag! Ich bin . . .«
»Bleib stehen! Wo trittst du denn hin, du Irrer? Auf meine Zeichnungen? Hast du denn keine Augen im Kopf?«
Auf dem harten, festgetretenen Boden sah man zwischen beiseite gefegten Strohhalmen mit Kreide aufgemalte geometrische Figuren, Skizzen und Zahlenreihen, über die sich ein grauhaariger Alter beugte, dessen Schädel blank wie ein Ei war. Skizzen, Figuren und Ziffern bedeckten selbst die Wände über seinem Lager.
»Ach«, Scharley zog sich zurück. »Verzeihung. Ich verstehe. Wie hätte ich das vergessen können:
Noli turbare circulos meos!
«
Der Alte hob den Kopf und ließ seine schwärzlichen Zähne sehen.
»Gelehrte?«
»In etwa.«
»So nehmt dort an dem Pfeiler Platz. An dem, der mit Omega bezeichnet ist.«
Sie hatten Stroh zusammengescharrt und sich damit zwei Lager an dem ihnen angewiesenen, mit dem eingeritzten griechischen Buchstaben versehenen Pfeiler aufgeschüttet. Kaum waren siedamit fertig, als Bruder Tranquilus erschien, diesmal in Gesellschaft von einigen anderen Mönchen im Habit mit dem Doppelkreuz. Die Brüder des Heiligen Grabes von Jerusalem brachten einen dampfenden Kessel herbei, aber die Patienten im Turm durften sich diesem erst nach dem
Pater noster,
dem
Ave,
dem
Credo,
dem
Confiteor
und dem
Miserere,
die gemeinsam im Chor gesprochen wurden, mit ihren Schüsseln nähern. Reynevan ahnte noch nicht, dass dies der Anfang eines Rituals war, dem er sich für lange Zeit zu unterwerfen hatte. Für eine sehr lange Zeit.
»Der Narrenturm«, sagte er, und starrte stumpf vor sich hin, auf den Boden der Schüssel, an dem die Reste von Hirsegrütze klebten. »In Frankenstein?«
»In Frankenstein«, bestätigte Scharley, mit einem Strohhalm in den Zähnen stochernd. »Der Turm ist beim St.-Georgs-Hospital, das die Grabritter aus Neisse betreiben. An der äußeren Stadtmauer, am Glatzer Tor.«
»Ich weiß. Ich bin daran vorbeigegangen. Gestern. Es war wohl gestern . . . Wie sind wir hierher gekommen? Warum hat man uns als Geisteskranke eingestuft?«
»Offensichtlich hat jemand unsere letzten Missetaten analysiert.« Der Demerit lachte laut. »Nein, teurer Cyprian, ich habe nur Spaß gemacht, so viel Glück haben wir leider nicht. Das ist nicht nur der Narrenturm, das hier dient auch . . . vorübergehend . . . als Gefängnis der Inquisition. Der Karzer der hiesigen Dominikaner wird umgebaut. Frankenstein hat zwei Stadtgefängnisse, eines im Rathaus und ein anderes unter dem Schiefen Turm, aber beide sind immer überfüllt. Deswegen werden auf Befehl des Heiligen Officiums die Arrestanten hier im Narrenturm untergebracht.«
»Dieser Tranquilus«, Reynevan gab nicht auf, »behandelt uns aber, als wenn wir nicht ganz bei Verstand
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