Narrenturm - Roman
und gleichzeitig mit seiner Miene begann sich, wie von Merlins Zauberstab berührt, auch der Himmel aufzuhellen. Zwar war es noch immer neblig und nass, aber man spürte bereits die Sonne, und schon wurde es da oben immer lichter, und das vorherrschende Grau begann allmählich Farben anzunehmen. Die Vögel, die bis dahin düster vor sich hin geschwiegen hatten, ließen sich zunächst nur schüchtern vernehmen, bald aber sangen sie fröhlich vor sich hin. Die Tropfen auf den Spinnennetzen glänzten wie Silber. Nur die Wege, die von der Kreuzung wegführten, verloren sich noch im Dunst wie in eine Märchenwelt.
Auch gegen die Gefahr, einer gleisnerischen Gaukelei anheim zu fallen, gab es ein Mittel.
Wütend darüber, dass er zu übermütig gewesen war und nicht früher daran gedacht hatte, schob Reynevan mit dem Fuß das um das Kreuz wuchernde Unkraut beiseite und ging ein paar Schritte am Wegrand entlang. Rasch und ohne große Schwierigkeiten fand er, was er suchte.
Breitfächrigen wilden Kümmel, mit rosa Blüten übersäten Zahntrost und Wolfsmilch. Er rupfte die Blätter von den Stengeln und legte diese zusammen. Es dauerte ein Weilchen, bis er sich erinnerte, wie und um welche Finger er sie winden, wie verflechten und wie er den
nodus
, den Knoten, schürzen musste. Und wie die Beschwörungsformel lautete.
Eins, zwei, drei
Wolfsmilch, Kümmel, Zahntrost
Binde zusamene
Semitae eorum incurvatae sunt
Und der Weg wird klar.
Einer der Wege an der Kreuzung wurde nach einer Weile heller, angenehmer, einladender. Interessant war, dass Reynevan ohne sein Gebinde nie vermutet hätte, dass dieser der rechte Weg war. Aber er wusste, dass das Gebinde nicht log.
Er war wohl gerade drei Vaterunser lang geritten, als er Hundegebell und das aufgeregte Geschnatter von Gänsen vernahm. Kurz darauf stieg ihm ein angenehmer Duft von Rauch in die Nase. Rauch aus einer Räucherkammer, in der zweifelsfrei etwas äußerst Schmackhaftes hing. Vielleicht Schinken. Oder Speck. Reynevan sog den Duft so gierig ein, dass er darüber die Welt vergaß und sich mir nichts, dir nichts innerhalb der Umzäunung eines Gasthofes am Wege wiederfand.
Ein Hund kläffte ihn an, aber wohl eher pflichtschuldig, ein Ganter reckte seinen Hals und zischte die Fesseln des Pferdes an. Zu dem Duft des Geräucherten gesellte sich der Geruch frischen Brotes, der sogar noch den Gestank des riesigen Misthaufens, den Gänse und Enten belagerten, überdeckte.
Reynevan stieg ab und band seinen Grauschimmel an einen Pfahl. Der Stallbursche, der ganz in der Nähe die Pferde versorgte, nahm, beschäftigt wie er war, keinerlei Notiz von ihm.
Reynevans Aufmerksamkeit hingegen fesselte etwas ganz anderes: An einem der Pfeiler der Veranda hing an ziemlich verworrenen vielfarbigen Fäden ein Hexenzauber, drei zu einem Dreieck gebundene und mit einem Kranz aus verwelktem Klee und Butterblumen geschmückte Zweige. Reynevan staunte zwar, wunderte sich aber nicht übermäßig. Magie gab es überall, die Leute verwendeten magische Attribute, ohne zuwissen, was sie bedeuteten oder wozu sie wirklich dienten. Entscheidend war allerdings, dass der vor Übel schützende Hexenzauber, so nachlässig er auch gebunden war, sein Gebinde hätte beeinflussen können.
Deswegen bin ich hierher gelangt, dachte er. Verdammt. Aber wenn ich nun schon einmal da bin . . .
Er trat ein und beugte den Kopf unter dem niedrigen Balken der Eingangstür.
Die vor die kleinen Fenster gespannten Häute ließen kaum Tageslicht herein, im Innern herrschte ein Halbdunkel, das nur vom Flackern des Kaminfeuers erhellt wurde. Über dem Feuer hing ein Kessel, aus dem von Zeit zu Zeit Schaum aufstieg, das Feuer reagierte darauf mit Zischen und Dampfen, was die Sicht zusätzlich erschwerte. Es waren nicht viele Gäste anwesend, lediglich an einem Tisch in der Ecke saßen vier Männer, anscheinend Bauern, mehr war in dieser Dunkelheit nicht auszumachen.
Kaum hatte sich Reynevan auf eine Bank gesetzt, stellte auch schon ein Mädchen in einer Schürze eine Schüssel vor ihn hin. Obwohl er eigentlich nur Brot hatte kaufen und weiterreiten wollen, protestierte er nicht – die Mehlklöße in der Schüssel dufteten köstlich und verführerisch nach ausgelassenem Speck. Er legte einen Groschen auf den Tisch, einen von den wenigen, die Kantner ihm überlassen hatte.
Das Mädchen beugte sich leicht vor und reichte ihm einen Löffel aus Lindenholz. Sie roch schwach nach Kräutern.
»Du bist wie eine
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