Narrenturm - Roman
brachte er nichts als ein leises Krächzen hervor. Der Ritter Mauerläufer kam leichtfüßig näher. In unmittelbarer Nähe lächelte er und verzog die Lippen zu einem sehr erotischen Kuss für den Kleriker. Bevor dieser noch begriffen hatte, worum es ging, sah er aus den Augenwinkeln das Aufblitzen einer Klinge, empfing einen Stoß in den Bauch, und schon spritzte das Blut auf seine Schenkel. Ein zweiter Stoß traf ihn in die Seite, das Messer glitt an den Rippen ab. Er fiel mit dem Rücken gegen die Mauer, ein dritter Stoß spießte ihn fast daran auf.
Jetzt hätte er schreien können und hätte es gewiss auch getan, wäre er dazu noch in der Lage gewesen. Der Mauerläufer sprang hinzu und durchtrennte ihm mit einem langen Schnitt die Kehle.Zusammengekrümmt und in einer dunklen Blutlache liegend, fanden ihn die Bettler. Bevor die Stadtwache erschien, kamen auch noch die Händler und Krämer vom Hühnermarkt gelaufen.
Über dem Ort des Verbrechens hing das Grauen. Ein schreckliches Grauen, das einem die Gedärme umdrehte. Ein furchtbares Grauen.
So furchtbar, dass es bis zum Eintreffen der Stadtwache keiner wagte, den Geldbeutel zu stehlen, der dem Ermordeten aus dem vom Messer zerfetzten Munde ragte.
»Gloria in excelsis Deo«,
intonierte Kanonikus Otto Beess, senkte die gefalteten Hände und neigte das Haupt vor dem Altar.
»Et in terra pax hominibus bonae voluntatis . . .«
Die Diakone rechts und links von ihm stimmten verhalten in den Gesang ein. Otto Beess, der Präpositus des Breslauer Domkapitels, fuhr fort, die Messe zu zelebrieren. Er tat es unbewusst, gewohnheitsmäßig. Seine Gedanken weilten woanders.
Laudamus te, benedicimus te, adoramus te,
glorificamus te, gratias agimus tibi . . .
Man hatte den Kleriker Guibert Bancz ermordet. Am helllichten Tag. Mitten in Breslau. Und Bischof Konrad, der die Nachforschungen über die Ermordung von Peterlin von Bielau eingestellt hatte, würde sicher auch jene über den Mord an seinem Sekretär einstellen lassen. Ich weiß nicht, was hier vor sich geht. Aber man muss sich um seine eigene Sicherheit sorgen. Nie, zu keinem Anlass und unter keinem Vorwand eine Gelegenheit geben. Und sich nicht überraschen lassen.
Der Gesang stieg hinauf bis ins hohe Gewölbe des Breslauer Domes.
Agnus Dei, Filius Patris. Qui tollis peccata mundi, miserere nobis.
Qui tollis peccata mundi, suscipe deprecationem nostram . . .
Otto Bees kniete vor dem Altar.
Ich hoffe, dachte er, während er das Kreuz schlug, ich hoffe, dass Reynevan es geschafft hat . . . Dass er schon in Sicherheit ist . . . Ich hoffe es sehr . . .
Miserere nobis . . .
Die Messe nahm ihren Fortgang.
Vier Reiter galoppierten auf dem Kreuzweg, an dem Steinkreuz, einem der zahlreichen Zeichen für Verbrechen und Sühne in Schlesien, vorbei. Der Wind wütete, der Regen peitschte, und Schlamm spritzte unter den Pferdehufen auf. Kunz Aulock, genannt Kyrieleison, fluchte und wischte sich mit seinem nassen Handschuh das Wasser aus dem Gesicht. Stork von Gorgewitz tat es ihm nach, nur dass er unter seiner triefenden Kapuze noch schauerlicher fluchte. Walter de Barby und Sybko von Kobelau war das Fluchen bereits vergangen. Galoppieren, dachten sie, nur schnell unter irgendein Dach, in eine Herberge, ins Warme, ins Trockene, zu einem heißen Bier.
Schlamm spritzte unter den Pferdehufen auf und traf die ohnehin schon vor Schmutz starrende Gestalt, die mit einem Mantel bedeckt unter dem Kreuz hockte. Keiner der Reiter beachtete sie.
Reynevan hob nicht einmal den Kopf.
Neuntes Kapitel
in dem Scharley erscheint.
D er Prior des Karmeliterklosters von Striegau war klapperdürr wie ein Skelett; seine Gestalt, die trockene Haut, der nur oberflächlich rasierte Bart und die lange Nase verliehen ihm das Aussehen eines gerupften Reihers. Wenn er Reynevan anblickte, blinzelte er, und wenn er sich wieder ans Lesen von Otto Beess’ Brief machte, hielt er diesen zwei Zoll vor seine Nase. Seine dürren, bläulichen Hände zitterten unaufhörlich, bei jeder Bewegung verzog er schmerzlich den Mund. Dabei war der Prior keineswegs ein alter Mann. Es war eine Krankheit, die Reynevan kannte und der er manchmal begegnete, eine auszehrende Krankheit wie Aussatz – aber unsichtbar, gleichsam von innen her. Eine Krankheit, gegen die alle Arzneien und Kräuter machtlos waren und gegen die nur die stärkste Magie half. Aber was half es, wenn sie half? Selbst wenn einer wusste, wie man sie heilen konnte, heilte er nicht, denn
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